Wilde Rosen: Roman (German Edition)
hatte sie das Essen zu Figuren angeordnet, ein Mann und eine Frau auf jedem Teller.
Kein chef d’honneur hätte seine Komposition mit mehr Hingabe anrichten können. Während sie Spinatkleider, Karottenarme und Kartoffelgesichter arrangierte, kam es ihr beinah so vor, als entwickelte jede der Figuren eine individuelle Persönlichkeit. Und weil sie sich ihrer Kreation so sehr verbunden fühlte, gab sie den Teller mit dem hübschesten Mädchen dem Mann am Tisch, der ihr zulächelte, als sie auftrug. Und den Teller mit dem mürrisch dreinblickenden Jungen, dessen Erbsenaugen verschlagen in die Welt hinausschielten, gab sie dem Gast, den sie für den »Staranwalt« hielt, den Clorinda auf ihrem Zettel erwähnt hatte. Schließlich war diese Dinnerparty allein seine Schuld.
Als alle Gäste ihre Teller bekommen hatten, herrschte Schweigen. Unter dem dumpfen Stampfen ihrer Doc Martens auf dem Parkett floh May aus dem Eßzimmer, überzeugt, daß Clorindas Dinnerparty zum Scheitern verurteilt war. Seltsamerweise stimmte diese Erkenntnis sie sehr traurig, wo May doch immer die Ansicht vertreten hatte, Dinnerpartys seien etwas grauenhaft Spießiges.
Als sie in die Küche kam, hörte sie das Klatschen. Es begann ganz zaghaft, wie die ersten Regentropfen auf einem Stein und steigerte sich dann in einem gewaltigen Crescendo zu Tischtrommeln, Pfeifen und Jubeln. Sie applaudierten ihr. May atmete tief durch und lächelte. Dann reckte sie ihre Faust in die Luft. »Ja!«
Theoretisch hätte sie jetzt nach Hause gehen können. Aber nachdem ihr ein Taxi versprochen worden war, konnte sie sich für die U-Bahn-Fahrt einfach nicht erwärmen, schon gar nicht nach dem gewaltigen Drink, den Clorinda ihr verabreicht hatte. Und nachdem sie nun einmal beschlossen hatte, die Bezahlung für den heutigen Abend zu unterschlagen und Schleimbeutel nur etwas abzugeben, wenn Harriet darauf bestand, würde sie auf keinen Fall ohne ihr Geld nach Hause fahren.
Nein, sie wollte sich nicht von der Stelle rühren, bis Marcus oder Clorinda mit ein paar Scheinen kamen. Und während die Gäste ihre kleinen Kartoffelmännchen verspeisten, konnte sie ja schon mal ausrechnen, wieviel sie zu bekommen hatte.
May hatte gerechnet, aufgerundet und abgerundet, und noch immer drangen Gelächtersalven aus dem Eßzimmer. Die Teller waren ja vielleicht ganz amüsant gewesen, aber doch sicher kein ausreichender Grund für diese hemmungslose Heiterkeit? Ich hätte nicht so viele Flaschen Wein öffnen sollen, dachte sie. Vermutlich lassen sie sich so richtig vollaufen. Es wird noch Stunden dauern. Ich hätte Stangenbrot und Butter als Löschpapier auf den Tisch stellen sollen. Das hätte ihnen gefallen.
Es war eher Langeweile als Pflichtbewußtsein, die May dazu trieb, die Spülmaschine einzuräumen und ein bißchen Ordnung in der Küche zu schaffen. Dann verzog sie sich im Gäste-WC auf der Suche nach einer guten Seife und Handcreme. Und dann kam ihr eine wunderbare Idee: Warum sollte sie sich mit einer lauwarmen, ärmlichen Tröpfeldusche auf dem Boot abfinden, wenn sie hier doch ein geradezu paradiesisches Duscherlebnis genießen konnte und obendrein noch ihr eigenes Wasser sparen? Sie fand, sie hatte jedes Recht darauf. Immerhin hatte sie diese blöde Dusche geputzt, sie schuldete ihr was.
Schnell, ehe sie ihre Meinung ändern konnte, zog sie sich aus und trat unter den schäumenden Strahl. Stundenlang hätte sie da stehen können und sich von einem heißen Niagara-Fall Kopfhaut, Schultern, Rücken und Waden massieren lassen. Durch das Tosen der Fluten hindurch hörte sie, daß jemand an der Tür rüttelte, aber sie schenkte dem keinerlei Beachtung. Sie würde diese Dusche nicht verlassen, bis ihre Haut in Fetzen hing, und vielleicht nicht mal dann. Wer behauptete, duschen gehe schneller als baden, hatte entweder noch niemals ein echtes Bedürfnis nach Säuberung verspürt oder aber noch keine Dusche wie diese erlebt. Als ihre Haut endlich die Farbe reifer Erdbeeren angenommen hatte und herrlich kribbelte, stellte sie den Strahl zögernd ab und stand tropfend in der plötzlichen Stille.
Das Donnern der Dusche wurde vom Donnern gegen die Tür abgelöst. Wer immer draußen stand, hatte offenbar nur darauf gewartet, daß das Wasser abgestellt wurde, um mit neuem Elan zu hämmern. May reagierte nicht. Oben gab es doch sicherlich ein absolut funktionsfähiges Bad. Sie hatte das zwar nicht persönlich überprüft, aber es war ausgeschlossen, daß ein Haus dieser Größe
Weitere Kostenlose Bücher