Wilde Rosen: Roman (German Edition)
Frauen, die ihn zu zeichnen versuchten.
Harriet, die kaum je männliche Genitalien gesehen und ganz sicher nie zuvor so eingehend studiert hatte, mußte feststellen, daß sie die Proportionen vollkommen falsch wiedergab. Fast hörte sie May im Geiste schon fragen, ob das ein Dinosauriermännchen sei, das ihnen da Modell gesessen habe. Harriet war so unerfahren, daß sie nicht einmal sagen konnte, ob dieser Mann durchschnittlich oder mit ein paar Zentimetern extra ausgestattet war. Auf jeden Fall hatte er weitaus mehr vorzuweisen als die Männer, die die Decke der Sixtinischen Kapelle zierten. Sie nahm sich vor, in Zukunft jede Statue nackter Männer eingehend zu begutachten, an der sie vorbeikam.
Sie konnte nur hoffen, daß Leo nicht erriet, welchen inneren Kampf sie gefochten hatte, bis sie den Mut fand, die Geschlechtsorgane dieses Mannes zu zeichnen und nicht dort Stellung zu beziehen, von wo aus sie nur seinen muskulösen Rücken und sein rundes Gesäß hätte sehen können. Die meisten der Frauen hatten sich für diesen leichteren Weg entschieden. Nur Harriet und die grauhaarige Frau, die Elizabeth hieß, hatten sich auf seine Vorderseite gewagt. Elizabeth hatte sich mit der ihr eigenen Unbefangenheit und Selbstsicherheit ans Werk gemacht. Harriet biß die Zähne zusammen und machte weiter.
Ihr Handballen war bereits schwarz. Auch Leos altes Hemd, das sie verkehrt herum als Kittel trug, war gründlich verschmiert. Sie rieb wieder mit der Hand über ihre Zeichnung, bis nur noch die Andeutung einer Linie erkennbar war. Dann machte sie einen kleinen Schritt zur Seite, so daß die problematische Partie im Schatten lag. Wenn Leo von seiner Kaffeepause zurückkam, würde er vielleicht glauben, das sei alles, was sie sehen konnte.
Leos Verhalten ihr gegenüber war schwer zu durchschauen. Er sagte wenig über ihre Arbeit und wenn er es tat, waren seine Anmerkungen alles andere als schmeichelhaft. Andererseits schien er zu erwarten, daß seine beißenden Kommentare über »Artige Aquarelle« und »Hobbymalerinnen« sie ermutigten. Harriets Erfahrungen mit Männern, einschließlich jener kurzen, umwälzenden Episode, waren sehr beschränkt. In dem Dorf, wo sie aufgewachsen war, gab es niemanden, der mit Leo vergleichbar gewesen wäre. Oder wenn doch, war sie ihm jedenfalls nie begegnet. Sie hatte keinerlei Rüstzeug, mit Leos Art zurechtzukommen, bis auf ihren gesunden Menschenverstand, und das war nicht immer genug.
Leo war zynisch, anspruchsvoll und arrogant, doch er konnte auch sehr charmant sein, selbst wenn er sich die Mühe bei Harriet nie machte. Mit Ausnahme von Elizabeth waren seine Schülerinnen samt und sonders in ihn verliebt.
Keine dieser Eigenschaften war besonders sympathisch. Fairerweise mußte man ihm zugestehen, daß er nichts tat, um die Frauen in ihren Gefühlen zu bestärken, außer hin und wieder einen beißend sarkastischen Kommentar über ihre Arbeiten abzugeben. Aber Harriet wußte, daß er mindestens mit zweien seiner Schülerinnen Affären gehabt hatte und früher oder später vermutlich mit einer dritten schlafen würde.
Sie gab sich alle Mühe, ihn nicht zu mögen. Aber jedesmal wenn sie gerade zu der Überzeugung gekommen war, daß er, wie May es ausdrücken würde, »ein echter Scheißkerl« war und daß sie ihn nur ertrug, weil er einen so erstklassigen Ruf als Künstler und als Lehrer hatte, jedesmal tat er irgend etwas unbestreitbar Liebenswertes. Wie etwa einem Penner das Curry zu schenken, das er sich gerade beim Inder geholt hatte. (Das hatte sie von dem Penner erfahren, der sie vor dem Haus angesprochen hatte, nicht um zu betteln, sondern um ihr einen Gruß an den »Chef« aufzutragen.)
Harriet wischte sich die Hände an ihrem Kittel ab und griff wieder zum Kohlestift, fest entschlossen, den deutlich ausgeprägten Adamsapfel des Modells einzufangen. Sie bewunderte gerade die perfekte Wölbung, mit der er in den Hals überging, als ihr einfiel, daß ein Adamsapfel ein tertiäres Geschlechtsmerkmal war. Leo verstand es wirklich, ein Modell auszuwählen.
Und er war ein phantastischer Lehrer. Wenn er doch nur nicht immer so tun wollte, als sei ihr Job nebensächlich. Sie konnte ihm einfach nicht begreiflich machen, daß sie zu einem Team gehörte, daß sie es May schuldete, ihren Anteil zu leisten. Leo erwartete – und das kam im Grunde einem Befehl gleich –, daß sie immer mehr Zeit für die Kunst und immer weniger für alles andere aufbrachte.
Und das war Harriets Problem.
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