Wilde Wellen
Sobald du zurück in Paris bist, gehst du einfach hin.«
»Ja. Das mache ich.« Sie legte das Armband und den kleinen Eiffelturm zurück auf das weiÃe Seidenbett. Schloss die Schachtel und legte sie auf den dunklen Holztisch im Restaurant.
»Was trinkst du? Weià oder Rot? Wir haben einen ungewöhnlichen weiÃen Burgunder von 2006, der wird dir schmecken. Aber vielleicht ist dir der Bordeaux aus St. Estephe zum Rehfilet lieber?«
Sie versteckte sich hinter ihrem unwichtigen Gerede. Nur Thomas nicht zu Wort kommen lassen. Die Fragen, die er stellen würde, würde sie nicht beantworten können.
Michel sah Marie und diesen Thomas im hell erleuchteten Lokal. Marie stellte ihm ein Glas Wein hin. Setzte sich. Sprang wieder auf. Holte einen Korb mit Brot. Setzte sich wieder. Und sah ihn nicht an. Michel spürte die Distanz, die Marie zu diesem Mann herstellte, deutlich. Aber lebte sie nicht mit ihm zusammen? Zumindest wenn er in Paris war wohnte er doch bei ihr, hatte sie ihm erzählt. Und dass sie seit zwei Jahren ein Paar waren. Allerdings viel hatte sie nicht über ihn geredet. Wenn er darüber nachdachte, sogar immer weniger in den letzten Tagen. Das konnte natürlich damit zusammenhängen, dass sie nach Célines Unfall kaum mehr von etwas anderem geredet hatten als darüber, wie so etwas Schreckliches hatte geschehen können. Und, vor allem, wer so etwas Schreckliches tun konnte. Sie machten sich alle Gedanken, wer der Unfallfahrer gewesen sein konnte, der Céline auf der StraÃe hatte sterben lassen, ohne sich darum zu kümmern. Da waren Pariser Liebesdinge möglicherweise in den Hintergrund geraten. Er drehte sich weg, um nach Hause zu gehen. Doch plötzlich war er wieder hellwach. Die Müdigkeit, die ihm gegen Ende der Vernissage in die Knochen gekrochen war, war wie weggeblasen. Jetzt würde er nicht schlafen können. Sollte er sich zu den beiden setzen und noch ein Glas Wein mit ihnen trinken? Ein Blick auf das Paar, das sich schweigend gegenübersaÃ, sagte ihm, dass das keine gute Idee sei. Dann nicht. Dann würde er das tun, was er schon lange vorhatte. Er ging davon in die schmalen Gassen. Als er vor der blauen Holztür stand, die so windschief in den Angeln hing, holte er den Schlüssel aus der Jackentasche. Schloss auf und verschwand in dem kleinen Schuppen, der zwischen zwei Häuser gezwängt war. Kurz darauf leuchtete eine müde Lampe im Inneren des Schuppens auf. Doch das, was Michel vorhatte zu tun, musste warten. In der Sekunde, in der er sich in den verschlissenen Sessel setzte, um sich nur kurz auszuruhen, fiel er in einen erschöpften Schlaf.
Der weiÃe Hund kam aus dem Nebel auf ihn zugerannt. Er wurde mit jedem der gewaltigen Sprünge, die er machte, gröÃer und bedrohlicher. Sein Bellen wurde zum Getöse, die Augen glühten wie Kohlen. Jetzt war er bei ihm. Setzte zum Sprung an. Er würde sich auf ihn stürzen. Er würde den Halt verlieren. Und über die Klippe stürzen. In das tosende Meer, das sich in wütenden Wellen am Fuà der Kippe brach.
Paul wachte keuchend auf. Merlin, der wie immer auf der Decke neben dem Bett schlief, setzte sich sofort auf und sah ihn fragend an. Paul stand auf. Er musste sich bewegen, um wieder zur Ruhe zu kommen. War es richtig gewesen, Marie bei der Vernissage zu überraschen? Doch er hatte es einfach nicht ausgehalten, an sie zu denken und nichts zu tun. Sicher, er hatte sie verletzt, als er von dem Verdacht gegen ihren Vater gesprochen hatte. Aber es war ihm ja selbst klar gewesen, dass an diesem Verdacht nichts dran sein konnte. Wie hatte er sich nur so von Claire Menec beeindrucken lassen können? Andererseits â Claire lebte hier. Sie kannte die Leute. Sie kannte die Gerüchte. Sie kannte Michel. Kannte überhaupt jemand diesen Michel Dumont richtig? Diesen merkwürdigen Mann, um den die Trauer ständig wie ein schwarzer Schatten schwebte? Paul hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so viel unterschwellige Bitternis ausstrahlte. Dieser Blick, mit dem er Marie ansah. Voller Schuld und Scham. Aber das war es doch: Es war diese Scham, die nicht zu einem Mörder passte. Michel schien ein Mensch zu sein, den seine Skrupel quälten. Wenn er tatsächlich Céline angefahren hätte â er wäre stehen geblieben, hätte versucht zu helfen. Und selbst wenn er in seiner ersten Panik weitergefahren wäre â er
Weitere Kostenlose Bücher