Wilde Wellen
Gefahr für sich selbst zu denken, einfach das getan hatte, was er tun musste. Er hatte seinem Freund das Leben gerettet. Wie hätte er ihn nun verraten sollen? Wie hätte er das Leben, das Leon ihm geschenkt hatte, weiterleben können, wenn der Freund durch seinen Verrat im Gefängnis gelandet wäre? Monique hatte das nicht verstanden. Sie hatte ihn gehasst für seine Treue zu seinem Freund. Er hatte sich entscheiden müssen zwischen der Frau, die er liebte, und dem Mann, dem er sein Leben verdankte. Und er hatte keine Sekunde gezögert, sich für Leon zu entscheiden. Aber damit waren sie quitt. Jetzt konnte Leon seine Solidarität nicht mehr erwarten. Wenn er jetzt vor die Entscheidung gestellt würde, Leon zu verraten oder Marie die Wahrheit zu sagen, würde er wissen, was er zu tun hatte.
Marie zuckte erschrocken zusammen, als sich die Küchentür öffnete.
»Papa. Was machst du hier um diese Zeit?«
»Und du? Was machst du in meiner Küche mitten in der Nacht?«
Marie war dabei, Crêpes zu backen. Der leichte Teig floss in die heiÃe Pfanne, in Sekundeschnelle entstand ein dünner Pfannkuchen, den Marie geschickt auf einen Berg schon gebackener Crêpes gleiten lieÃ.
»Du kannst Crêpes backen?«
»Ich bin auch ganz verblüfft. Ein weiteres Puzzlestückchen von meiner geheimnisvollen Gesamtpersönlichkeit.« Sie streute Zucker auf einen der zarten Pfannkuchen, rollte ihn zusammen und reichte ihn Michel. »Und sie schmecken auch noch perfekt.«
»Super!« Michel war beeindruckt. »Woher kannst du das?«
»Von dir, vermute ich mal. Du bist der einzige Koch, den ich kenne.« Verschmitzt lächelte sie ihn an.
»Auf jeden Fall könnte ich eine Crêperie aufmachen. Das ist doch schon was.« Sie lieà zwei Espressi aus der Maschine und setzte sich zu ihrem Vater an den Tisch, wo sie ihre Crêpes verspeisten.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wieso du nicht schläfst um diese Zeit.«
»Senile Bettflucht, würde ich sagen«, versuchte Michel zu scherzen. Dass er seit vielen Jahren kaum schlief, würde er Marie nicht sagen.
»Dagegen musst du was tun. Es ist nicht gesund, zu wenig zu schlafen. Warst du schon beim Arzt?«
Es rührte ihn, wie ehrlich besorgt sie um ihn war.
»Bei mindestens zehn Ãrzten. Aber die verschreiben einem ja nur diese Killertabletten. Einmal nehmen und fünf Tage ausgeknockt sein. Das kann ich mir nicht leisten.«
»Und bei dieser Céline? Warst du auch schon bei ihr? Ich hab gehört, sie kann Wunder vollbringen.«
»Céline? Ja. Natürlich war ich bei ihr. Aber besser ist es nicht geworden.«
Schon wieder log er seine Tochter an. Aber sollte er ihr sagen, dass er nur einmal bei Céline gewesen war? Und dass sie ihm gesagt hatte, dass er seine Schlafprobleme nicht in den Griff bekommen würde, wenn er nicht mit sich im Reinen wäre?
»Schade.« Marie klang enttäuscht. »Ich dachte, vielleicht gehe ich mal zu ihr. Kann ja sein, dass sie ein Kraut hat gegen Gedächtnisverlust. Oder so was Ãhnliches.«
»Sie ist eine groÃartige Frau, das stimmt wohl. Aber dieses Kräuterzeugs â ehrlich gesagt, ich glaube nicht daran.«
»Okay, dann eben nicht Céline. Aber ich könnte es mal mit Hypnose versuchen. Ich hab darüber was in der Zeitung gelesen. Ach ja, apropos lesen. Ich finde, wir sollten uns einen Computer zulegen. Damit könnte ich im Internet recherchieren. Wer weiÃ, vielleicht gibtâs ja irgendwo auf der Welt jemanden, der mir helfen kann.«
Michel fühlte, wie die Schlinge sich um ihn zuzog. Er war froh gewesen, dass er sich bislang noch nicht hatte entschlieÃen können, sich einen Computer und einen Internetanschluss zuzulegen. Aber Marie würde bestimmt nicht lockerlassen. Und dann musste sie nur noch ihren Namen eingeben. Sehr schnell würde sie am Ziel ihrer Suche sein.
9
Der Sturm würde kommen, hatte der Schäfer prophezeit. Céline sah auf das glatte, schwarze Meer, an dessen Horizont, nur geschmückt von einer Reihe Positionslichter, die funkelten wie bunte Perlen, sich der Nachthimmel mit dem Wasser verband. Vielleicht täuschte sich Xavier ja. Auch er konnte irren. Vielleicht saà ihm eine Erkältung in den Knochen oder vielleicht hatte er ein bisschen viel von dem Gras geraucht, das er im Wald heimlich anbaute. Sie stand still am Fenster
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