Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
tatsächlich war in den letzten Tagen ihr kaum zu zügelndes Verlangen endlich abgeebbt - Hitze, Müdigkeit und Durst waren verblüffend lusttötend. So konnte sie also risikofrei ein paar Minuten in seiner Gesellschaft verbringen Als sie sich neben ihm im Sand niederließ, meinte sie: »Ich dachte, du stattest irgend jemandem in der Karawane einen Besuch ab.«
»Manchmal bin ich gerne allein in der Wüste. Wunderschön, nicht wahr?« Er bewegte die Hand in einer umfassenden Geste in Richtung Dünen. In der späten Nachmittagssonne bildeten sie eine elegante, fremdartige Szene von weich gezeichneten Kurven und dramatischen Schatten.
»Wunderschön, ja, aber karg«, bemerkte sie. »Ich muß immer wieder daran denken, wie grün Schottland ist. Und all das herrliche Wasser.«
Er hob erstaunt die Brauen. »Fehlt Schottland dir?«
»Manchmal. Immerhin habe ich die ersten fünf Jahre meines Lebens dort verbracht. Ich glaube, daß das, was man als Kind liebt, immer im Herzen eingeschlossen bleibt.«
»Das stimmt. England, das Königreich im Meer, wird stets meine Heimat bleiben.« Sein Blick glitt zurück auf die Szene vor ihnen. »Doch trotz aller Gefahren bin ich dankbar dafür, daß ich noch eine Chance bekommen haben, auf der Seidenstraße zu reisen. Es fasziniert mich, daß Menschen seit Tausenden von Jahren diese Einöde durchqueren und Güter und Ideen von Rom nach China und den ganzen Weg wieder zurück bringen. Wir gehen in den Fußstapfen Marco Polos und zahllosen anderen Händlern und Abenteurern.«
»Ein romantischer Gedanke.« Da er sie nicht ansah, nutzte sie die Gelegenheit, sein Profil zu bewundern. Wegen der Wasserknappheit hatte er sich seit einigen Tagen nicht rasiert, und sein Kiefer war mit dunkelgoldenen Bartstoppeln bedeckt. Mühsam ihren Blick losreißend, fragte sie: »Ist das der Grund, warum du soviel gereist bist? Wegen der Romantik und dem Abenteuer?«
»Zum Teil ja.« Bevor sie darauf etwas antworten konnte, setzte er nachdenklich hinzu: »Ich denke, mein nächstes Buch, falls ich noch eines schreiben sollte, wird von der Seidenstraße handeln.« »Dein nächstes Buch? Ich wußte nicht, daß du überhaupt eins geschrieben hast«, sagte sie begeistert. »Wovon handelt das andere oder die anderen?«
»Nur Bemerkungen zu meinen Reisen. Eines erzählt über die Sahara, ein anderes über die Nordwestgrenze Indiens, das dritte über das Morgenland und das nördliche Arabien.« »Beeindruckend.« Juliet strahlte ihn an. »Haben sie sich gut verkauft?«
Er zuckte die Schultern. »Ganz anständig. Sie sind alle mehrfach nachgedruckt worden, aber zum Teil wegen meines Titels. Mein Verleger sagte mir, daß >Lord< oder >Lady< auf dem Umschlag immer die Auflage verdoppelt.«
Juliet hatte den Verdacht, daß er sich nur bescheiden gab, wollte es aber nicht ansprechen. »In diesem Fall sollten sich deine Einnahmen ja vervierfachen, wenn du den >Duke of Windermere< vorne draufschreibst.«
»Vermutlich«, murmelte er ohne Begeisterung. Sein Blick glitt zum Horizont zurück. Dann spannten sich seine Gesichtszüge plötzlich an. »Verdammt! Ein Sandsturm zieht auf.«
In den wenigen Minuten, die sie beieinander waren, hatte sich der Himmel verdunkelt, und der ewige Wind blies nun um einiges stärker. Juliet sah in die Richtung, die Ross gewiesen hatte, und entdeckte nun auch die drohenden blaugelblichen Wolken, die sich über den Dünen zusammenballten. Eine dicke, graue Wand kam von dort auf sie herunter.
»Sieht ziemlich übel aus.« Ross sprang auf. »Komm, wir warnen besser die Karawane, sich vorzubereiten.«
Juliet stand ebenfalls auf, aber bevor sie sich in Bewegung setzte, nahm sie sich ein wenig Zeit, den Sturm genauer zu untersuchen. Und was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die Staubwolke raste mit einer Geschwindigkeit auf sie zu, der kein Mensch davonlaufen konnte, und an ihren Rändern wirbelten gewaltige spiralförmige Säulen. Während sie näherrückte, erfüllte ein geisterhaftes Stöhnen die Luft, welches die Nerven zerrütten konnte.
Gegen den Wind anbrüllend, lief sie hinter ihrem Mann her.
»Ross, dazu ist keine Zeit mehr! Runter, und bedeck deinen Kopf!«
Eine Windböe traf sie mit einer Gewalt, die sie fast von den Füßen gerissen hätte, und brachte selbst Ross zum Taumeln. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, wandte er sich um und begann, sich langsam zu ihr zurückzuarbeiten, wobei der aufgepeitschte Sand seine Gestalt verschwimmen ließ.
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