Wilder Als Ein Traum
flößte ihr Becher um Becher warmer Milch mit Honig ein, bis die Müdigkeit dem Seelenschmerz die Schärfe nahm.
Die kleine Familie redete und redete. Sicher hatte Tabitha in ihrem ganzen bisherigen Leben nicht derart viele Worte mit ihren Eltern ausgetauscht; aber jetzt sprudelten die Sätze wie ein Wasserfall aus ihr heraus - sie erzählte ihnen, wie sie Colin zum ersten Mal begegnet war, wie verzückt er gegrinst hatte beim Verspeisen der Big Macs - welchen Großmut er gezeigt hatte, als er sie, Aberglauben und Gesetz zum Trotz, nicht dem Feuer überantwortete.
Sie malte farbenfrohe Wortbilder, bis ihre Eltern die Menschen, von denen sie sprach, so deutlich vor sich sehen konnten wie sie selbst - die alte Nana mit dem lächelnden, breiten Gesicht, die süße Jenny mit der Stupsnase und den kurzen Locken, Arjon mit seinem trockenen Humor und seiner Vorliebe für hübsche junge Frauen, die liebliche Lyssandra, die am Ende sein Herz gewonnen hatte. Alles erzählte sie ihnen - außer der Freude, die sie und Colin aneinander gefunden hatten, und außer dem letzten grauenhaften
Augenblick. Wenn sie es nie in Worte fasste, wäre es vielleicht nicht wahr.
Als sie geendet hatte, saßen sie lange schweigend da; doch schließlich sah sie ihre Mutter flehend an. »Bitte, Mama, du musst mir helfen, dorthin zurückzukehren. Ich weiß, dass er auf mich wartet. Wenn du mir nur einen Weg weist …«
Arian schüttelte traurig den Kopf. »Tut mir Leid, mein Liebling, aber Zeitreisen ohne das Amulett übersteigen meine Fähigkeiten. Und deine ebenfalls«, fügte sie sanft hinzu.
Tabitha wandte sich an ihren Vater. »Du kannst dafür sorgen, dass es funktioniert, nicht wahr, Daddy? Du bist derjenige, der das Amulett vor all den Jahren entworfen hat. Alles, was du zu tun brauchst, ist, noch einen solchen Edelstein anzufertigen. Ich weiß, dass du ein fotografisches Gedächtnis besitzt. Selbst wenn du den Prototyp vernichtet hast, musst du dich doch noch daran erinnern, wie er aussah.«
Tristan ergriff Tabithas Hände und sah hilflos seine Gattin an. »Dadurch würdest du riskieren, dass du einem weiteren Monster wie Brisbane in die Hände fällst. Meinst du, das würde dein Colin wollen?«
Niedergeschlagen ließ Tabitha den Kopf sinken. »Nein«, antwortete sie schleißlich leise. »Das würde er ganz sicher nicht.«
Sie entzog ihrem Vater ihre Hände und stand müde auf. »Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte sie so tonlos, dass ihre Eltern einander unglücklich ansahen. »Ich glaube, wenn ihr nichts dagegen habt, nehme ich heute einen freien Tag.«
Während sie auf ihr Schlafzimmer zuschlurfte und die Decke hinter sich auf dem Boden nachschleifen ließ, sah Arian Tristan flehend an. »Oh, Liebling, was sollen wir nur tun? Sie war immer ein solch genügsames Mädchen. Ich hätte nie gedacht, dass sie uns eines Tages braucht.«
Tristan zog sie an seine Brust und küsste sie aufs Haar, damit sie nicht das Blitzen seiner Augen sah. »Tja, aber jetzt braucht sie uns eben. Und ich habe die Absicht, für sie da zu sein.«
Ihre Tochter meldete sich krank.
Fünf Wochen lang lag sie die meiste Zeit in ihrem Pyjama auf dem Sofa, sah sich Seifenopfern und Spielshows im Fernsehen an. Sie bewegte sich kaum, dachte kaum nach und weinte nie. Außerdem brachte sie, Lucy im Schoß, Stunden im Schneidersitz vor ihrem Fenster zu und blickte trockenen Auges auf die von Fremden bevölkerte Stadt. Die Tage und Nächte vergingen wie in einem Nebel; die einzige Unterbrechung waren die Besuche ihrer Eltern, die mit Töpfen voller Hühnersuppe und Tüten voller Leckereien aus ihren Lieblingsrestaurants bei ihr auftauchten. Bereits nach kurzer Zeit platzte ihr Kühlschrank schier vor unangetasteten Köstlichkeiten.
Nach viereinhalb Wochen konnten sie ihre Sorge nicht mehr hinter tapferem Lächeln und falscher Fröhlichkeit verbergen; und in der Angst, sie hätte vielleicht die Pocken, die Pest oder eine andere Krankheit von ihrer Reise ins Mittelalter mitgebracht, schickte ihr Vater sie zum Arzt.
Aber Tabitha erklärte, sie bräuchte keinen Arzt.
Sie war nicht krank.
Sie starb.
Ihr Körper, der ordentlich an die Stelle zurücktransportiert worden war, an dem er nach Meinung des Amulettes zu gehören schien, kam ihr wie eine leere Hülle vor. Ihr Herz weilte bei Colin auf der sonnenhellen Wiese, auf der sie ihm zum ersten Mal begegnet war.
Am Ende wurde ihr Vater wütend und brüllte sie an, sie solle
endlich aufhören, um einen Mann zu
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