Wilder Als Ein Traum
Seele fraß. Sie hatte nur einen schlimmen Augenblick an ihrem ersten Tag, als sie einen verspäteten Bericht in die Buchhaltung hinübertrug.
Ein dunkelhaariger Mann schlenderte den mit dicken Teppichen ausgelegten Gang hinab, und als sie auf ihren hochhackigen Schuhen hinter ihm her stolperte, setzte kurzfristig ihr Herzschlag aus.
»Sir«, rief sie, unfähig den flehenden Ton in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Warten Sie, bitte warten Sie auf mich!«
Doch als er sich umdrehte, hatten seine Augen nicht die Farbe des Sonnenlichts, sondern waren von einem stumpfen
Braun. Er starrte sie verwundert an. »Ja? Kann ich etwas für Sie tun?«
Sie trat einen Schritt zurück und die Enttäuschung schnürte ihr die Kehle zu, als sie erwiderte: »Ich dachte, Sie wären jemand anderes. Tut mir Leid, Mr …?«
Er reichte ihr die Hand. »Ruggles. George Ruggles.«
Früher einmal hätten Tabitha seine ruhige Miene, die sorgsam geschnittenen Haare und das freundliche Lächeln sicher gefallen; aber inzwischen hegte sie eine Vorliebe für Männer mit Bartstoppeln und Haaren, die zerzaust aussahen, selbst wenn sie gekämmt waren.
Die Wochenenden waren am schwersten für sie, und eines Samstagmorgens im Frühling fand sie sich auf den Stufen zur New Yorker Stadtbibliothek wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt war. Die steinernen Löwen, die den Eingang flankierten, galten als Hüter der Wahrheit; aber sie fürchtete, ihre edlen, unbeugsamen Mienen drückten vielleicht mehr aus, als sie ertrug.
Als sie jedoch die Hand auf ihren Bauch legte, wurde ihr klar, dass sie dem Kind mehr als hübsche Märchen schuldete.
Wahrscheinlich hätte sie die gesuchten Informationen über das Internet gefunden; aber sie schätzte den riesigen Hauptlesesaal mit dem diffusen Sonnenlicht und den bronzenen Leselampen schon seit jeher. Nachdem sie ihre Anfrage getätigt hatte, setzte sie sich auf einen der Stühle und wartete in der Hoffnung, dass die Angestellten heute etwas weniger diensteifrig waren, geduldig ab. Doch eine lächelnde Blondine trat bereits nach kurzer Zeit mit ihrer Bestellung zu ihr an den Tisch.
Zitternd blätterte Tabitha den dicken Kopienstapel durch. Sie wusste nicht einmal, weshalb es von Bedeutung sein sollte, ob Colin an jenem sonnigen Morgen auf der Wiese
tatsächlich getötet worden war. So oder so wäre er schließlich seit über siebenhundert Jahren tot. Seine Knochen wären inzwischen nichts weiter als Staub.
Trotzdem durchforstete sie die alten Ahnenbücher und erfuhr, dass der Name Ravenshaw irgendwann in Renshaw umgewandelt worden war; dann wanderte sie langsam durch die Jahrhunderte, bis sie den von ihr gesuchten Eintrag fand.
Eine Träne tropfte auf die Seite, als sie mit ihrem Finger über seinen Namen strich. Es schien, als hätte Colin, der siebte Lord von Ravenshaw, das hohe Alter von siebenundachtzig Jahren erreicht. Trotz dieses außergewöhnlich langen Lebens hatte er nur einmal geheiratet. Seine Frau wurde nicht namentlich erwähnt - aber sie hatte ihm drei Söhne und zwei Töchter geboren, alle bemerkenswert gesund und langlebig für jene Zeit. Ihre Liebe hatte eine Dynastie begründet, die sich über mehrere Seiten erstreckte und die es noch in der Gegenwart zu geben schien.
Tabitha ließ ihren Tränen freien Lauf und hob eine Hand an ihren Mund. Die Freude, die sie darüber empfand, dass Colin Brisbanes Angriff überlebt hatte, wurde ein wenig von bittersüßer Eifersucht getrübt auf die gesichts- und namenlose Frau, mit der er über fünfzig Jahre lang sein Leben, seine Liebe und sein Bett geteilt hatte.
Die blonde Bibliothekarin, die ihr die Kopien gebracht hatte, tippte sie vorsichtig auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung, Miss?«
»Ich glaube nicht«, wisperte sie, schnappte sich ihre Handtasche und flüchtete aus dem Lesesaal.
30
Michael Copperfield öffnete die Schwingtür zum Lennoxschen Labor und spähte in den Raum. Dort befand sich kein Mensch. Die meisten Angestellten waren früh gegangen, um sich für die Cocktailparty fein zu machen, die ihr Boss am Abend veranstaltete. Eine Cocktailparty, auf der die neue Vizepräsidentin des Unternehmens ernannt und den New Yorker Größen sowie der Presse vorgestellt würde.
»Tristan?«, rief er in den Raum.
Niemand antwortete. Er fühlte sich ein wenig wie ein Dieb, als er auf dem Weg in Tristans innerstes Heiligtum an der Reihe leuchtender Monitore vorüberschlich. Trotz all der Erfolge, die der Freund mittlerweile in der
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