Wilder Als Ein Traum
wo?«
Sie hatte gedacht, seine Miene könnte nicht mehr grimmiger werden, doch sie hatte sich geirrt. »Aus diesem Verlies.«
Tabitha fuhr zusammen, als sie mit einem Mal die enormen Folgen ihres Tuns begriff. Hätte sie ihn nicht so lange aufgehalten, könnte er längst in Freiheit sein.
»Dieser Brisbane scheint kein besonderer Freund von Ihnen zu sein. Was haben Sie ihm denn getan?«
»Was ich ihm getan habe?« Seine leise Stimme klang gefährlicher, als wenn er gebrüllt hätte. »Was ich ihm getan habe?«
Ehe Tabitha ihre Frage zurücknehmen konnte, hatte er sich schon erhoben, näherte sich ihr, und sie rappelte sich
furchtsam auf. Er rührte sie nicht an. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Allein durch seine Willenskraft trieb er sie mit dem Rücken an die Wand, wo sie hilflos in seine blitzenden Augen sah.
In der Schule hatte sie gelernt, dass die Männer früher selten so groß waren wie die Männer ihrer Zeit. Ihre Klassenkameraden hatten bei der Vorstellung einer Armee von Zwergen auf kurzbeinigen Shetland-Ponys laut gelacht. Jetzt jedoch begriff sie, die Naivität ihres damaligen Kicherns.
Dieser Mann mochte kaum größer sein als sie, aber er verströmte eine Urkraft. Seine Nähe war beunruhigend und eigenartig aufregend zugleich.
Sie versuchte, ihren Kopf zu senken, doch er packte sie am Kinn und zwang sie ihn weiter anzusehen. »Vielleicht erzähle ich Euch lieber, was dieser Brisbane mir angetan hat«, zischte er.
»Wenn Sie wollen«, piepste sie.
»Während ich im Namen Christi gegen die Ungläubigen in Ägypten kämpfte, hat er die Burg meines Vaters belagert, mehrere ihrer Bewohner, unter anderem meine Stiefmutter und meine kleine Schwester, verhungern lassen, und das Dorf in Brand gesetzt. Seine Schergen haben sämtliche Männer im wehrfähigen Alter abgeschlachtet und sämtliche Frauen vergewaltigt, von der Greisin bis hin zum unschuldigen Kind.«
Tabitha wurde kreidebleich.
»Als ich schließlich nach sechs Jahren wieder schottischen Boden betrat, haben mir Brisbanes Männer aufgelauert, mich hierher in dieses Verlies geschleppt und ihr Herr klärte mich anschließend freundlicherweise über das Schicksal meiner Familie auf.«
Ohne die Antwort hören zu wollen, flüsterte sie erstickt: »Und was geschah mit Ihrem Vater?«
»Sein Herz versagte, bevor die Burg gestürmt wurde. Wahrscheinlich hat ihn die Trauer über den Tod meiner Stiefmutter umgebracht.«
Die Lady schluckte mühsam. »Kein Wunder, dass sie so schlechter Laune sind. Wahrscheinlich leiden Sie unter einem posttraumatischen Stress-Syndrom oder unter der nicht verarbeiteten Trauer. Vielleicht könnte ein guter Psychotherapeut …?« Stammelnd brach sie ab. Bei seinem reglosen Blick erschien ihr ihr Psychogebrabbel plötzlich wahnsinnig trivial.
Ohne ersichtlichen Grund wurde sein Griff um ihr Kinn ein wenig sanfter. »Brisbane hat mir mein Heim genommen. Meine Familie. Meine Freiheit. Das Einzige, was mir noch blieb, war meine Ehre. Und Ihr, Mylady, habt sie ihm auf einem silbernen Tablett gereicht, als Ihr mich mit meinem eigenen Schwert verteidigt und seinen Männern die Gelegenheit gegeben habt, mich zu verspotten.«
Ravenshaw ist eine Memme!
Ravenshaw, du feige Sau. Versteckst dich hinter einer Frau!
»Was hätte ich denn tun sollen?« Tabitha sah ihn mit großen Augen an. »Hätte ich zulassen sollen, dass er Sie einfach abschlachtet?«
»Genau«, antwortete er prompt. »Dann wäre ich zumindest gestorben, ohne dass man mich auch noch meiner Ehre beraubt hätte.«
Am liebsten hätte sie gegen seine archaischen Vorstellungen losgewettert - aber die Erinnerung an diesen stolzen Ritter, der auf den Knien zu Füßen seines Feindes lag, war noch zu frisch.
Zu ihrem Entsetzen schnürte sich ihr mit einem Mal die Kehle zu. »Es tut mir Leid«, sagte sie inbrünstig und hoffte, ihre Tränen ließen sich zurückhalten.
Sir Colin von Ravenshaw war kein Mann, den man mit herzergreifenden Entschuldigungen so einfach umstimmen konnte. Trotzdem fuhr er mit seinem Daumen über ihre zitternde Unterlippe, ehe er sich abwandte und murmelte: »Und mir tut es doppelt weh, Mylady, doppelt weh!«
Tabitha kauerte in einer Ecke ihrer Zelle und starrte wie gebannt auf die immer kleiner werdende Flamme der Fackel an der Wand. Es war nur noch eine Frage von Minuten, ehe sie erlöschen würde, und ihr Verlies in Finsternis versank. Sehnsüchtig dachte sie an den Inhalt der Gucci-Tasche, die in ihrer Wohnung lag - eine
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