Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wilder Als Ein Traum

Titel: Wilder Als Ein Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa Medeiros
Vom Netzwerk:
Gedanken an eine derartige Peinlichkeit ringelte Tabitha sich zusammen und zog die Knie an die Brust. Ihre Eltern hatten nie in etwas Geringerem als einem Fünf-Sterne-Hotel residiert. Auch wenn sie möglicherweise beschlossen hatten, ein Wochenende in einem Kerker könnte für ihre Tochter eine charakterbildende Erfahrung sein, hätten sie sicher niemals ein Verlies gewählt, in dem es weder Zimmermädchen noch Badezimmer gab.
    Zum ersten Mal erwog sie nun, ob sie vielleicht nicht in einer von ihrer Mutter geschaffenen romantischen Fantasie, sondern in der bitteren Realität gefangen war.
    Sie hob den Kopf und prüfte die feuchten Wände ihrer Zelle genauer. Hoch an einer der Mauern verströmte eine dünne Fackel schwaches Licht. Man konnte sich lebhaft vorstellen, was vermutlich aus den Löchern im Putz gekrochen käme, wäre die Fackel schließlich abgebrannt. Die klamme Luft drang durch den schmutzigen Flanell ihres Pyjamas, und erschaudernd zog sie ihre Knie noch enger an sich.
    »Wo sind wir?« flüsterte sie.
    »In Brisbanes Verlies«, flüsterte ihr Mitgefangener zurück.
    Tabitha stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Momentan hatte sie einfach nicht die Kraft, dem lakonischen Barbaren, mit dem sie hier zusammen festsaß, die Antworten zu entlocken, nach denen sie lechzte. Angesichts der Umgebung und der Sprache der Menschen, denen sie bisher begegnet war, konnte sie nirgendwo in Großbritannien sein - Wales, England, Irland oder gar Schottland - was Sir Colins singende, gedehnte Sprechweise erklären würde.
    Aber falls das hier wirklich Schottland war, weshalb lief er dann nicht wie ein katholisches Schulmädchen in Faltenrock
und Strümpfen durch die Gegend? Sie zermarterte sich das Hirn und wünschte, sie hätte in Geschichte besser aufgepasst. Mathematik und Naturwissenschaften fielen ihr geradezu in den Schoß, aber Literatur und Geschichte hatte sie als frivole Hobbys für weniger pragmatische Geister mit einem Schulterzucken abgetan. Ihr schrulliges Hirn kannte neben komplizierten Gleichungen auch zahlreiche Liedtexte aus den Fünfzigern; aber in welchem Jahrhundert Benedict Arnold die Unabhängigkeitserklärung verfasst hatte, wusste sie beim besten Willen nicht.
    Vage erinnerte sie sich daran, dass der kurze Kilt weniger alten Ursprungs war als zunächst vermutet - dass seine gegenwärtige Beliebtheit in Königin Victorias Besessenheit bezüglich alles Schottischen und in der Heideromantik Sir Walter Scotts begründet lag; und dass man, je weiter man in der Zeit zurückreiste, auf eine eher matschige als mystische, eine eher armselige als ruhmreiche Zivilisationsstufe traf.
    Ihre nüchternen Überlegungen verursachten ihr Kopfschmerzen. Die sarkastische Antwort des Ritters auf ihre Frage Welches Jahr haben wir gerade? konnte sie sich lebhaft vorstellen.
    Was, wenn sie tatsächlich das Zeitkontinuum durchbrochen hatte? Es wäre zweifellos vorstellbar. Onkel Cops Gute-Nacht-Geschichten zufolge war ihre Mutter selbst auch zweimal, einmal mit Cop und einmal mit ihrem Vater im Schlepptau, in der Zeit zurückgereist.
    Tabitha zog das Amulett unter ihrer Schlafanzugtunika hervor und fragte sich, als sie es ansah, ob dieses vielleicht die momentane Katastrophe ausgelöst hatte.
    Sir Colin schaute mit großen Augen ebenfalls auf den Smaragd. »Und was, bitte, ist das?«
    Schuldbewusst ließ sie die Kette wieder sinken und brachte
ein bemüht ausdrucksloses Lächeln zustande. »Nichts weiter. Bloß ein Geschenk von meiner Mutter. Ein Glücksbringer.« Der ihr das größte Pech ihres Lebens beschert hatte!
    Unter Colins Raubtierblick dachte sie plötzlich an etwas völlig anderes. Falls dieser Mann nicht der verdrehten Vorstellung ihrer Mutter von ihrem Traumprinzen entsprang, war er ein gefährlicher Fremder. Ein Fremder, der am Ende ein schreckliches Verbrechen begangen hatte, dessenthalben er zu Recht hier eingekerkert war. Sie betrachtete ihn verstohlen. Der grüblerische Gesichtsausdruck und die dunklen Bartstoppeln verdeckten fast ganz den jungenhaften Charme. Was, wenn er ein Räuber, ein Totschläger oder gar ein Frauenschänder war? Mit seinen glühenden Augen und den wirren Haaren sah er aus, als wäre er zu all diesen Verbrechen in der Lage, ohne dass ihm dabei auch nur der Schweiß ausbrach.
    »Wie wurden Sie verwundet?«, fragte sie und nickte in Richtung seiner bandagierten Schulter.
    »Auf der Flucht.«
    Sicher gewönne er niemals den ersten Preis für Umgänglichkeit. »Auf der Flucht von

Weitere Kostenlose Bücher