Wilder Als Ein Traum
die Brille von der Nase nahm. Sicher hätte sie sich nicht verletzlicher gefühlt, hätte er sie vor den Augen seiner Männer sämtlicher Kleider entledigt.
Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Fragen, deren Beantwortung sie niemals über sich brächte; doch er hielt die Brille ins Sonnenlicht, strich mit seinen breiten Daumen über die Linsen, setzte sich das Gestell selber auf und hielt es, als traue er den Bügeln nicht, mit einer Hand fest.
Während er verwundert zwinkerte, bekam Tabitha einen Schluckauf. Seltsamerweise verstärkte die Brille noch seinen rauen männlichen Charme. Während sie überlegte, ob er eher wie ein prachtvoller Buchhalter oder wie ein ungewöhnlich intelligentes Modell wirkte, beobachteten seine Männer misstrauisch, wie er sich abermals über die Karte beugte.
»Arjon.« Er zeigte mit einem Finger auf einen dünnen Strich. »Was ist das für ein Fluss?«
Arjon beugte sich näher. »Das ist sicher der Tweed.«
Colin sah ihn grinsend an. »Wie ich es mir gedacht habe. Und diese Hügelkette hier?«
»Die Combies.« Arjon benannte Orientierungspunkt um Orientierungspunkt, bis Colin sie beinahe gleichzeitig mit ihm ausrief.
Plötzlich verstand Tabitha, weshalb er sie immer so verkniffen anzublicken schien, wenn er sie nicht gerade mit seinem herausfordernden Clint-Eastwood-Blinzeln verrückt machte. Wahrscheinlich war er ganz einfach noch kurzsichtiger als sie!
»Ein Wunder«, stellte er am Ende fest und schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals zu träumen gewagt, dass es so etwas gibt. Nicht einmal der Sultan von Ägypten besaß einen derartigen Schatz.« Er wandte sich an seinen Freund und täuschte Erschrecken vor. »Himmel, Arjon, du bist ja viel hässlicher, als ich gedacht habe!«
Sämtliche Männer, auch der Adressierte, brachen in fröhliches Gelächter aus. Tabitha hätte vielleicht ebenfalls gelacht; doch als sich Colin mit seinen blitzenden goldenen Augen an sie wandte, wurde ihr zu spät bewusst, dass sicher sie das nächste Opfer seines Spottes war.
»Und Ihr, Mylady«, sagte er mit leiser Stimme, während er ihre bestenfalls durchschnittlichen Züge eingehend betrachtete. »Ihr seid noch viel schöner, als ich bisher sehen konnte.« Als verwirre ihn sein Geständnis mindestens ebenso wie sie, nahm er die Brille wieder ab und gab sie ihr zurück. »Wie wunderbar dieses Gerät auch sein mag, gewöhne ich mich lieber nicht daran. Immerhin gehört es Euch.«
Tabitha machte erschrocken einen Schritt zurück. »Behalten Sie sie ruhig. Wirklich. Ich brauche sie nicht mehr.«
Auch ohne Brille sah sie bereits viel mehr als sie wollte. Sie sah das Sonnenlicht in Colins schimmernd dunklem Haar, die sympathischen Falten um seine Augen, das wehmütige
Lächeln seines Mundes, den zu küssen ihr ein geradezu schmerzliches Verlangen war.
»Bitte behalten Sie das Ding. Es sind einfach zwei Stücke gekrümmtes Glas, die ich für einen meiner Zaubertricks gebraucht habe. Für nichts weiter als einen harmlosen Trick.« Ja, wirklich, dachte sie betrübt. Für einen grausamen Schabernack, den ihr die Zeit und das Schicksal gespielt hatten. Colins Lächeln erlosch, als sie einen weiteren Schritt nach hinten machte. »Betrachten Sie es als Geschenk. Als Beweis meiner Dankbarkeit für Ihre Freundlichkeit.«
Ehe sie noch mehr Unsinn sagen konnte, machte sie auf dem Absatz kehrt und flüchtete, blind vor Tränen, den Hügel hinauf.
Tabitha warf sich auf dem schmalen Bett herum und beneidete Colin sowohl um seine weichen Kissen, als auch um seinen tiefen Schlaf. Trotz der warmen Pelze hätte sie ebenso gut auf einem Felsen liegen können. Ihre Verzweiflung machte selbst den Gedanken an Schlaf zu einem schlechten Witz.
Die Nacht gebärdete sich nicht weniger rastlos als Tabitha. Der Wind streifte wie ein böser Drachen um das Zelt, peitschte Äste gegen die sich blähenden Wände und heulte ein jämmerliches Klagelied.
Nachdem sie von der Ratssitzung geflohen war, hatte sie den Nachmittag mit der Suche nach dem Amulett verbracht. Es war wichtiger denn je, dass sie in das Jahrhundert zurückkehrte, in das sie gehörte. Nicht nur ihrer Eltern, sondern vor allem ihrer selbst wegen. Dieses Jahrhundert war wesentlich zu unaufgeräumt für ihren Geschmack - es war zu gefährlich und leidenschaftlich für jemanden wie sie. Sie musste zu ihrer Familie, ihrer Arbeit, ihrem Apartment
zurück - auch wenn es ihr inzwischen weniger gemütlich als vielmehr steril erschien - solange sie noch den
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