Wilder als Hass, süsser als Liebe
Seine Stimme verebbte.
»Wo immer Colonel Kushutkin jetzt ist, er wird sich über die Entscheidung sicher freuen«, sagte ROSS ruhig. »Von dem, was du erzählt hast, hätte er wahrscheinlich nicht bis heute durchgehalten, du aber! Nun kannst du seiner Familie die Bibel schicken, wie er es sich gewünscht hat.«
lans Gesichtsausdruck wurde bei ROSS’ Worten etwas weicher.
»Er schrieb Tagebuch auf den freien Seiten vorne und hinten. Er hatte etwas zu schreiben dabei, als man ihn verhaftete. Zudem lehrte er mich Russisch, und ich half ihm mit seinem Englisch.
Spion oder nicht - man hätte sich keinen besseren Zellengenossen denken können. Anwesende ausgeschlossen natürlich.« lan zog sich nun die turkmenischen Kleidungsstücke an, die ROSS ihm reichte. »Da meine Wärter glaubten, ich wäre er, beschimpfte ich sie jedesmal auf Russisch, wenn sie mich ansprachen. Niemand kam je auf die Idee, ich könnte nicht Pyotr Andreyovich sein.«
Nun wand lan sich seinen Turban geschickt so, daß sein blindes Auge bedeckt war. »Du und Juliet - habt ihr euch versöhnt?«
ROSS zögerte, denn die Frage war verdammt kompliziert, und er hatte keine echte Antwort darauf. Schließlich erwiderte er: »Ja.
Für den Moment.«
»Gut.« lan setzte sich und zog ein Paar von ROSS’ Stiefeln über.
»Dann entsteht ja vielleicht doch noch etwas Brauchbares aus diesem verfluchten Mist.«
Bei einem Geräusch von draußen wandte sich ROSS schnell um, aber es war nur Juliet, die von den Ställen zurückgekehrt war.
Beim Anblick ihres Bruders weiteten sich ihre Augen.
»Erstaunlich. Kaum zu glauben, daß du derselbe Mann bist, der vor weniger als zwei Stunden aus dem Kerker gekommen ist.«
lan entfaltete seinen trockenen Humor. »Eton College und die britische Armee sind eine exzellente Vorbereitung für ein oder zwei Jahre im Verlies.«
Juliets Gesicht erhellte sich, und sie kam zu ihm, um ihrem Bruder eine längere und gründlichere Umarmung zu gönnen, als kurz zuvor möglich gewesen war.
Doch während Juliet seine Worte für bare Münze nehmen wollte, erkannte ROSS, wieviel Kraft es lan kostete, seine Unbekümmertheit herauszustellen. Galgenhumor konnte nicht preiswert erkauft werden.
»Hast du lan schon erzählt, wie er und ich aus der Stadt herauskommen werden?« wollte Juliet jetzt wissen.
»Noch nicht.« ROSS nahm zwei zusammengefaltete Kleider und reichte Juliet und lan jeweils eins. »In den Körben auf dem Kamel und mit diesen beiden Frauengewändern gebt ihr bestimmt ein hübsches Damenpärchen ab.«
»Genial. Wir werden absolut verhüllt sein, und die Körbe werden unsere Größe verbergen.« lan ließ sich den Pferde-haarmantel über den Kopf gleiten. Tschador genannt, war das Gewand ein gewaltiger, schwarzer, formloser Sack, der nur eine kleine Öffnung über den Augen hatte, so daß die Unglückliche darin wenigstens gerade heraussehen konnte.
Nachdem Juliet sich den Schnurrbart abgenibbelt hatte, zog auch sie ihren Tschador über. Das längste erwerbbare Gewand war zu kurz für sie oder lan, aber wenn sie erst mal in den Tragekörben saßen, würde das nicht mehr auffallen. »Wir müssen los. Je eher wir aus der Stadt heraus sind, desto früher können wir diese unmögliche Kleidung loswerden.«
Sie und lan verließen das Zimmer, wobei sie ihn unaufdringlich an seinem Ellenbogen unterstützte. ROSS blickte sich rasch um und vergewisserte sich, daß sie nichts vergessen hatten. Morgen früh würde ein Diener kommen und aufräumen, was die nächtlichen Besucher hinterlassen hatten.
Als ROSS in den Hof hinaustrat, hörte er bereits Kamelgebrüll und Männerflüche - die untrüglichen Zeichen, daß sich nur wenige Meter entfernt eine Karawane sammelte. Zu seiner Freude handelte es sich bei dem Kamel um Julietta, und während Juliet und lan sich in die Körbe zwängten, begrüßte ROSS sein Lieblingskamel und gab ihm einen Apfel. Dann stieg er auf einen der Esel, und Murad nahm den anderen. Ein paar Minuten später erreichten sie den Platz, wo sich die Karawane zum Abreisen bereit machte. Hier war es leicht, in dem fürchterlichen Durcheinander aus Tieren und Menschen unterzutauchen. Wenn ihr Glück noch hielt, würden sie in einer guten Stunde aus der Stadt heraus sein.
Shahid Mahmud erfuhr, daß zwei Karawanen in dieser Nacht Buchara verlassen hatten, eine kleine in Richtung Süden durch das Tor von Namazgah und eine größere nach Osten auf Samarkand zu. Er schickte eine Truppe hinter der Karawane in
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