Wilder Engel (German Edition)
bloß überfliegen, aber dann blieb mein Blick an einer Stelle haften.
Wenn ich das Ganze richtig verstanden habe, ging es um Risikozulagen für bestimmte gefährdete Berufsgruppen.
Na ja, jedenfalls konnte ich dann schwarz auf weiß nachlesen: Die durchschnittliche allgemeine Lebenserwartung für Chemiker – insbesondere der organischen Richtung – liegt derzeit bei 58 Jahren. Nur, von der Warte der Lebensversicherer aus betrachtet, aber trotzdem …
Demnach also hätte der arme Berthold nur mehr 22 Jährchen vor sich, im Schnitt. Und die meisten davon noch nicht einmal im Vollbesitz seiner männlichen Kräfte, wie ich leider hinzufügen muss.
Ich habe auf den Schreck hin einer guten alten Freundin, die nach Teneriffa ausgewandert ist, eine E-Mail geschickt. Elke ist Heilpraktikerin und glaubt außerdem an Schamanen und deren Heilkünste.
Sie muss selbst gerade am Computer gesessen haben, jedenfalls kam ziemlich rasch eine Antwort herein.
»Mach dich nicht unglücklich, Mädchen, dieser Mann ist ohnehin nichts für dich«, schrieb Elke. »Die Sache mit der Chemie ist bloß eine faule Ausrede. Natürlich können organische Substanzen eine ganze Menge im Körper anrichten. Aber die Auswirkungen – inklusive Krebs – zeigen sich doch in den allermeisten Fällen erst Jahrzehnte später. Schlimm genug, aber wenn er jetzt mit 36 diese Probleme hat, muss die Lösung dafür woanders gesucht werden. Komm schon, Angela, das weißt du doch selbst, wenn du ehrlich bist. Und lass deine Mutter reden – Mütter wollen bloß, dass sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchen!«
Ich werde Elke ewig dankbar sein für ihre offenen Worte!
10. November 96
Berthold war beim Arzt und hat sich irgendein Mittelchen verschreiben lassen. Es wirkt auch zuverlässig, das Problem ist jetzt bloß, dass er unter der Wirkung zu einer fast schon schmerzhaften Dauererektion neigt.
Außerdem mag ich es gar nicht, wenn Berthold mir abends plötzlich – nach einem bedeutungsvollen Räuspern, das ich mittlerweile zu fürchten gelernt habe – mitteilt, er hätte vor einer Stunde etwa »seine Medizin« geschluckt.
Dann MUSS er nämlich, ob ich Lust habe oder nicht – wegen der Dauererektion nämlich …
Ich habe beschlossen, morgen früh eine weitere E-Mail an Elke zu schreiben. Vielleicht weiß sie ja Rat.
Angie ließ es an dieser Stelle gut sein und fuhr den Laptop herunter.
Eine Weile saß sie nachdenklich da und trank ihren zweiten Milchkaffee des Morgens.
Bei der Lektüre von Angelas Tagebuchauszügen hatte sich ihr Herz beinahe vor Mitleid zusammengekrampft. Auch wenn die intimen Geständnisse flott, ja fast heiter klangen, lustig war das Ganze im Grunde genommen nicht.
Angie konnte förmlich fühlen, wie unglücklich Angela damals über Bertholds kleines Problemfeld gewesen sein musste.
Aber auch er, wie musste sich er erst gefühlt haben, der Arme!
Sie ließ ihre Blicke über die Nachbartische schweifen, wo die vier mittelalten Urlauberpärchen sich immer noch verbissen anschwiegen.
Welcher Prozentsatz unter ihnen mochte unter dem gleichen Problemfeld leiden?
0 %, 25 %, 50 %, 75 % oder gar 100 %? Nein, Letzteres wohl nicht gerade, aber ersteres vermutlich auch nicht. Die Wahrheit lag wie so oft im Leben mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch hier in der Mitte.
Auf alle Fälle ein schöner Schlamassel für die Betroffenen. Und dabei handelte es sich doch bloß um eines der möglichen Problemfelder auf der Beziehungsebene der Geschlechter. Wenn auch um ein wichtiges.
Mit zunehmendem Alter wurde es sicher nicht leichter, allenfalls nahm die Tendenz zu resignieren deutlich zu. Da half es wohl auch nicht weiter, in Urlaub zu fahren. Oder, na ja: vielleicht in Ausnahmefällen!
Immerhin hatte Angela Engel es in der Karibik geschafft, sich hemmungslos zu vergnügen mit diesem gutaussehenden Amerikaner namens Dr. Mark Adams.
Aber Angela war auch noch vergleichsweise jung und vor allem bestürzend attraktiv gewesen. Damals, im April 97.
Und risikofreudig obendrein, das musste man auch sagen. Aber gerade Letzteres war nicht jedem gegeben. Am Aussehen konnte man jederzeit herumbasteln, an der inneren Einstellung nicht. Oder jedenfalls nur schwer. Und nur unter gewaltigem Energie- und Zeitaufwand.
Traurig, aber leider wahr.
In diesem Augenblick schmuggelte sich ein völlig anderes Bild in Angies Gedanken: Allister Fraser aus Aberdeen in seiner ganzen prachtvollen Männlichkeit. So, wie sie ihn beim Morgengrauen
Weitere Kostenlose Bücher