Wilder Engel (German Edition)
nächtliche, beziehungsweise frühmorgendliche, Erlebnis begann zu verblassen, je höher die Sonne am Himmel stand. Wahrscheinlich zeigte die geballte Ladung Dopamin, die im Schokokuchen gesteckt haben musste, bereits erste Wirkung. Das Leben konnte nun weitergehen wie vorher.
In diesem Moment platzte die Bombe.
»Schade, dass Sie nicht ein bisschen früher gekommen sind«, sagte Maggie. »Da saß heute Morgen genau an diesem Tisch hier eine junge Frau. Sie war auch ganz alleine unterwegs. Hübsch wie ein Engel, ungelogen. Blonde Haare, blaue Augen. Cleveres Mädchen, die hätte Ihnen sicher gefallen.«
»In knappen Jeans und einem noch knapperen knallroten Top?« Die Frage entschlüpfte ihm automatisch.
»Ja, ziemlich kess. Kennen Sie das Mädel etwa?«
»Ganz bestimmt nicht!«
»Na dann … Schauen Sie auf alle Fälle mal wieder rein. Man kann ja nie wissen, nicht wahr?«
6
J anuar 2005
Musste mich gleich zu Beginn des neuen Jahres der verblüffenden Tatsache stellen, dass ich heuer irgendwann bereits 35 werde. Meine Großmutter väterlicherseits starb mit 70! Das würde also bedeuten, sie hatte mit 35 genau die Hälfte ihres Lebens hinter sich gebracht.
Nur mal angenommen, es ginge mir genauso … Also, ich habe beschlossen, einen weiteren Neuanfang zu wagen. Ich finde, wenn man die zweite Hälfte des eigenen Lebens antritt, ist das geradezu Pflicht!
Prompt habe ich zu dem Themengebiet auch gleich ein kluges Buch gefunden. Was viel besser ist, als mit der eigenen Mutter über derartige Pläne zu sprechen: Sie hätte mir ja doch bloß wieder ans Herz gelegt, endlich vernünftig zu werden.
Oder gar meinem Vater davon erzählt, was sogar noch schlimmer ist.
Also das Buch behauptet, dass ein echter Neuanfang zwingend dreier Schritte bedarf – und zwar in dieser Reihenfolge:
1. symbolischer Tod
2. Chaos
3. Wiedergeburt
Wenn ich alles richtig verstanden habe, muss man sich unter den einzelnen Punkten Folgendes vorstellen:
Symbolischer Tod heißt nichts anderes als alte Zöpfe abschneiden. Sprich, das Auto verkaufen, die Wohnung kündigen, den Job – falls man einen hat – natürlich ebenfalls!
Aber halt!
Das alles nur symbolisch, selbstverständlich! Indem man auf einen Zettel schreibt: Ich muss erfolgreich sein und es allen recht machen! Und den Zettel anschließend verbrennt. Etwa in der Küchenspüle! Anschließend den Kaltwasserhahn aufdrehen, um zu verhindern, dass die Wohnung Feuer fängt und ausbrennt. Letzteres wäre nicht im Sinne des Erfinders.
Chaos: Hinterher betrinkt man sich am besten mit den allerliebsten Freunden so sehr, bis einem alles egal ist und man Wahrheiten ausspricht, die man im nüchternen Zustand niemals über die Lippen gebracht hätte.
Anmerkung: Man kann dies einige Tage später – nachdem der Kater abgeklungen ist – mit den nächsten Familienangehörigen wiederholen.
Und/oder dem Partner, falls man einen hat. Oder gehabt hatte, vorher meine ich.
Die Reihenfolge ist übrigens beliebig austauschbar. Denn der über kurz oder lang auftretende Katzenjammer kommt hundertprozentig!!!
Hurra, hurra, das Chaos ist jetzt da …
Wiedergeburt: Der heikelste Teil bei der ganzen Übung. Denn jetzt heißt es, die Folgen aus Schritt 1 und 2 auszusitzen. Man wird dazu einiges an Geduld und Beharrlichkeit aufbringen müssen. Nach den oben genannten Punkten symbolischer Tod und Chaos mag das irgendwie antagonistisch klingen, aber so ist es nun mal.
Es kann nämlich ein Weilchen dauern, bis sich aus dem Scherbenhaufen, den wir angerichtet haben und der von unseren innersten Ängsten und Neurosen nun kräftig gedüngt wird, scheu das erste junge Grün erhebt.
Dieses wiederum sollten wir nun geduldig und beharrlich aufpäppeln, bis aus der Politik der kleinen Schritte eine neue und vor Kraft strotzende Pflanze entstanden ist. Die Wiedergeburt ist abgeschlossen. Hurra, trara.
So weit das Buch!
Okay, also ich habe diese Punkte oben nur mal so für mich kürzer zusammengefasst und, zugegeben, ein wenig dabei übertrieben.
Diese Vorgehensweise hat mich nämlich schon immer ungemein animiert. Sie hilft mir dabei, meinen eigenen Weg nicht nur zu suchen, sondern gelegentlich auch zu finden.
So auch heute, denn mir fiel beim Zusammenschreiben Folgendes auf: Also die neue Pflanze sprießt vor sich hin, so weit, so gut.
Aber!
Jetzt kommen die faulen Kompromisse dran: etwa einzusehen und anzunehmen, dass die neue Pflanze doch nur wieder aus dem alten Scherbenhaufen
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