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Wilder Oleander

Wilder Oleander

Titel: Wilder Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Harvey
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Freak wirst du wohl niemals vergessen, wie?‹ Sie konnte nicht ertragen, dass es bei mir kein ›Schwamm drüber‹ gibt. Ich kann zwar vergeben, aber nicht vergessen.«
    Für Coco war das ein erschütterndes Geständnis. Das Zwitschern aus der Voliere und die Gespräche der anderen Gäste
waren verstummt, sodass sie nur Kennys leise Stimme vernahm. »Irgendwann kam’s dann dazu, dass ich auftrat. Ich habe in allen möglichen Bereichen gearbeitet, weil ich vorwärts kommen wollte. Jedes Mal hat man bald gemerkt, was für ein gutes Gedächtnis ich habe; die Jungs am Wassersiphon forderten mich heraus, gingen Wetten ein, wer mich aufs Glatteis führen würde. Auf Partys stachelte man mich an. ›Hört mal, wie Kenny die Tabelle des periodischen Systems rückwärts runterleiert!‹ Auf dem Tisch häufte sich das Geld, alle hatten ihren Spaß.«
    Coco schloss die Augen. Dachte an ihre Schwestern. »Komm schon, Coco, sag uns, wann wir heiraten. Wer begleitet uns zur Abschlussfeier? Werd ich auf der University of California angenommen? Hey, schaut doch mal, was Coco mit dieser Kugel macht, ist echt unheimlich.« Sie wusste genau, was in Kenny vorging.
    »Wie steht’s mit Ihnen?«, sagte er und rührte in seinem Irish Coffee herum. »Wie lebt es sich so als Hellseherin?«
    »Vor vielen Jahren hat man mich beschworen, meine Begabung anderen zugute kommen zu lassen; es sei egoistisch, sie für mich zu behalten. Also hängte ich ein Schild raus und hielt Sitzungen ab. Ich kam gut an, die Kunde von meinen so genannten übersinnlichen Fähigkeiten verbreitete sich, ich hatte mehr Zulauf, als mir lieb war. Womit ich allerdings schlecht zurecht kam, waren dieser Druck, diese ungeheure Bedürftigkeit: Werd ich den Job bekommen? Wird er mich fragen, ob ich ihn heiraten will? Habe ich Krebs? Leute, die eigentlich etwas von ihren Chefs oder ihren Freunden oder von Ärzten erwarteten, kamen zu mir, weil sie die Ungewissheit nicht aushielten. Anstatt den Anruf mit der gefürchteten oder ersehnten Mitteilung abzuwarten, überfielen sie mich und hielten mir die Pistole auf die Brust. Ich sah vieles vorher, was dann auch eintrat, aber meine Kunden
gaben sich nicht damit zufrieden. Wenn ich sagte: ›Nein, es ist kein Krebs‹, dann bestürmten sie mich: ›Sind Sie sicher?‹ Oder wenn ich sagte: ›Sie haben Krebs‹, dann fauchten sie mich an: ›Wie können Sie das wissen, Sie sind doch kein Arzt.‹ Wenn ich ihnen etwas Schlimmes mitteilte, hassten sie mich, wenn die Nachricht positiv für sie war, gierten sie nach mehr. Weil ich es keinem recht machen konnte, montierte ich mein Schild wieder ab und suchte nach einem Weg, meine Begabung in den Dienst einer sinnvollen Sache zu stellen.«
    »Und die ist?«
    »Ich spüre Vermisste auf.«
    »Ein lohnenswertes Unterfangen.«
    »Ich arbeite auch an Mordfällen mit, helfe der Polizei, Täter dingfest zu machen.«
    Er schwieg sich aus, sagte schließlich: »Verstehe.«
    »Ich arbeite in Manhattan. Gelegentlich erhalte ich eine Anfrage aus Jersey oder sogar aus Boston. Ein noch größeres Betätigungsfeld möchte ich gar nicht, denn dann wäre ich Tag und Nacht im Einsatz.«
    »Sie müssen gut sein.«
    »Bin ich.« Es klang keineswegs überheblich. »Dabei wünschte ich, dem wäre nicht so.«
    »Haben Sie schon mal versucht, sie irgendwie loszuwerden, diese Begabung?«
    »Unzählige Male. Docs, Therapie, sogar Drogen.« Sie schüttelte den Kopf.
    »Uns verbindet etwas«, sagte Kenny. »Sie sehen Dinge, die Sie nicht sehen wollen, und ich erinnere mich an Dinge, die ich lieber vergessen möchte.«
    Sie war verblüfft. Eine Gemeinsamkeit zwischen ihr und einem Mann hatte es lange nicht mehr gegeben. Wenn sie es recht überlegte, passierte es jetzt zum ersten Mal.
    »Verfügt in Ihrer Familie noch jemand über dieses Talent?«, fragte er.
    »Nein. Als ich klein war und noch nichts davon wusste, pflegte meine Mutter zu sagen, ich sei etwas Besonderes. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht ahnte sie etwas von dieser Begabung.«
    »Schlagen Sie ihr nach?«
    »Ich bin weder ihr noch meinem Vater ähnlich. Meine Schwester ist meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, und mein Bruder schlägt meinem Vater nach. Meine Gene sind hingegen ein solches Durcheinander, dass ich keinem ähnlich sehe.«
    Kenny warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zeit für meine Show. Werden Sie auch da sein?«
    »Eigentlich«, sagte sie und stieg vom Barhocker, »sollte ich woanders sein.«
    »Wie heute Nachmittag

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