Wilder Oleander
Ihnen bei Ihren Ermittlungen irgendwie behilflich sein kann … «, sagte sie an der Tür.
»Das könnten Sie durchaus«, erwiderte Jack und bemühte sich, weder zur Kenntnis zu nehmen, wie die Seide ihren Körper umschmeichelte, noch den Blick dorthin zu richten, wo ihr Morgenrock unterhalb des Halses leicht auseinander klaffte. »Ich würde mich gern auf dem Gelände ein wenig umsehen und vielleicht kurz mit dem einen oder anderen Ihrer Angestellten sprechen.« Als er sah, dass sie erschrak, fügte er rasch hinzu: »Ganz unauffällig natürlich. Kein Wort von einem Mord oder dass ich von der Polizei bin. Eine zwanglose Unterhaltung.«
Sie überlegte kurz. »Ich werde Ihnen einen Ausweis des Sicherheitsdienstes geben«, sagte sie dann. »Bin gleich wieder da.«
Sie verschwand im Nebenzimmer und schloss die Tür. Jack vertrieb sich das Warten damit, dass er sich eingehender in dem geräumigen Salon umsah. Die Einrichtung zeugte von Geschmack und Klasse. Auf einem altmodischen Rollpult sah er Stifte herumliegen und Notizblöcke und …
… einen Stapel Akten. Die obersten drei waren fächerförmig auseinander geschoben und beschriftet mit
Ophelia Kaplan, Coco McCarthy, Sissy Whitboro.
Die drei Frauen, mit denen Nina hatte Kontakt aufnehmen wollen – die drei Frauen, die in derselben Woche wie Nina geboren waren.
Nach einem raschen Blick über die Schulter schob er mit dem Finger die darunter liegenden Akten ebenfalls fächerförmig auseinander. Es versetzte ihm einen Stich, als er auf einem Etikett den Namen
Nina Burns
las.
Abby Tyler hatte ihn angelogen.
Als er an der Tür etwas hörte, wandte er sich eilends vom
Schreibtisch ab. Abby kam mit einer in Plastik eingeschweißten Karte zurück. »Damit erhalten Sie überall auf dem Gelände Zutritt, Detective. Ich bitte Sie nur um Diskretion.«
Er nahm die Karte entgegen.
»Sonst noch was?«, fragte sie.
»Nein. Nichts. Vielen Dank für den Kaffee, Ms. Tyler. Gute Nacht.«
Nachdem Abby die Tür geschlossen hatte, meinte sie zu Vanessa: »Dieser Jack Burns macht mich nervös.«
»Wieso denn? Wenn er dich verhaften wollte, hätte er es bereits getan.«
Abby zwang sich, nicht mehr an Jack Burns zu denken. Sie hatte genug anderes zu überlegen. Jetzt, da Ophelia Kaplan doch noch eingetroffen und in der Suite Marie Antoinette untergebracht worden war, konnte Abby weiter nach Plan vorgehen.
Allerdings war bei dem nächsten Schritt äußerste Vorsicht geboten. Ein falscher Schritt, und alles war verloren. Sie trat an den in die Wand eingelassenen Safe, öffnete ihn und entnahm ihm ein zusammengerolltes gelbes Plakat, das an den Ecken die Löcher von Reißzwecken aufwies. Sie hatte es von der Anschlagtafel in einem Postamt abgerissen, vor dreiunddreißig Jahren …
Damals war sie in Bakersfield, Kalifornien, gewesen, weil Mercy gesagt hatte, sie habe die Aufseherin zum Arzt sagen hören: »Bakersfield hat es eilig.« 1972 war das gewesen, und eine junge und verängstigte Emmy Lou Pagan, die, um nicht von der Polizei geschnappt und wieder ins Gefängnis gesteckt zu werden, sich einen anderen Namen zugelegt hatte, blätterte ein Telefonbuch durch und notierte sich die Adressen von Anwälten und Agenturen für Adoptionen, in der Hoffnung, den Mann und die Frau ausfindig zu machen, die mit ihrem
Baby weggefahren waren. Unauffällig stellte sie Nachforschungen an, indem sie vorgab, schwanger zu sein und völlig mittellos, um vielleicht auf diese Weise Kontakt zum illegalen Babyring zu bekommen.
Um Weihnachten herum – ihre Tochter war bereits sechs Monate alt! – hatte sie den Mann in dem weißen Impala noch immer nicht aufgespürt. Die Polizei um Hilfe zu bitten war ausgeschlossen; im Zusammenhang mit dem Gefängnisbrand wurde wahrscheinlich weiterhin nach ihr gefahndet. Vielleicht hielt man sie sogar für die Brandstifterin.
Im Verlauf jenen Jahres in Bakersfield war Abbys Verzweiflung mit jeden Tag größer geworden. Wo war ihr Baby? Wer hatte die Kleine adoptiert? Was waren das für Menschen, die Babys auf dem Schwarzmarkt kauften? All dies hatte Abby versucht, in Erfahrung zu bringen, indem sie Anwälte aufsuchte und durchblicken ließ, dass sie schwanger sei. »Ich möchte mein Kind liebevollen Menschen anvertrauen.«
»Wir unterziehen unsere Antragsteller einer gründlichen Prüfung«, beschied man sie ausnahmslos. »Wir stellen sicher, dass die Adoptionseltern charakterlich einwandfrei sind, finanziell abgesichert und geistig gesund.«
Geistig
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