Wilder Oleander

seine Lippen dicht an ihrem Ohr. Abby war überwältigt von der vertraulich-innigen Stimmung des Augenblicks – romantische Musik aus dem CD -Spieler, das Wohnzimmer erfüllt von goldenem Sonnenlicht und Jack Burns muskulöser Körper an ihrem. Wie in ihrem Traum die Szene am Meer. Würde alles andere auch so sein?
    »Wichtig ist, einen hohen Grad von Spannung beizubehalten, sonst wird die Flugbahn des Pfeils unruhig.« Seine Finger um ihre auf der Sehne des Bogens gelegt, zog er ihren Arm zurück. Seine Brust war jetzt an ihren Rücken gepresst, beider Arme auf Tuchfühlung nebeneinander, seine gleichsam wie eine Umarmung.
    Er spannte die Sehne auf ihr Gesicht zu und sagte: »Jeder Schütze hat seinen eigenen Ankerpunkt. Sie müssen herausfinden, wie es für Sie am bequemsten ist.« Seine Fingerspitzen
streiften ihre Wange. »Hier«, murmelte er, »oder hier«, als er ihr Kinn berührte. Ihre Haut war warm, ließ ihn an das Feuer denken, das er tief drinnen in ihr vermutete.
    Sie zielten auf die Gartenmauer. Abby konnte kaum sprechen, derart berauscht war sie von seiner Nähe. »Ist das nicht gefährlich?«
    »Keine Sorge. Wir werden nur die Mauer da drüben treffen.« Ihr Duft war süß und verzaubernd, nicht wie ein Parfum, sondern als wäre Abby eine Blume aus einem ihrer Gärten. Warum zum Kuckuck ließ er sich auf so etwas ein? Er wollte mehr über Abby Tyler in Erfahrung bringen, aber nicht
derart
viel, nicht, wie es sich anfühlte, wenn sie an ihm lehnte, nicht den Duft ihres Haars riechen, nicht die Wärme ihrer Haut spüren. Ein solches Wissen war hochgefährlich.
    Er sollte sofort abbrechen. Er
konnte
abbrechen – ihre Fingerabdrücke waren auf dem polierten Griff des Bogens. Stattdessen sagte er: »Jetzt einfach mit der Handfläche an das Heft drücken, die Finger ganz locker.« Warmer Atem an ihrer Wange.
    Der Bogen wackelte. Abby lachte auf. Jack stimmte in das Lachen ein, genoss den Augenblick, vergaß kurz, warum er hier und wer diese Frau war. »Zum Lösen einfach die Finger locker lassen. Nicht an der Sehne ›zupfen‹.«
    Gemeinsam lösten sie die Sehne. Der Pfeil schoss in den Garten, und Abbys rechte Hand wurde vom Rückstoß nach hinten gerissen. Sie taumelte gegen Jack, der sie einen Moment lang in die Arme schloss und an sich drückte. Ihr Gesicht hob sich seinem entgegen. Und dann hörten sie den Pfeil an die Mauer prallen, und Abbys Kopf fuhr herum. »Haben wir etwas getroffen?«, sagte sie, und Jack ließ die Arme sinken und trat einen Schritt von ihr zurück.
    Er war wütend auf sich. Wie hatte er das zulassen können? Sobald ihre Fingerabdrücke auf dem Griff waren, hätte er den
Bogen an sich nehmen und sagen sollen, das Zuggewicht sei zu hoch für sie, für einen Anfänger empfehle sich ein leichterer Bogen. Stattdessen hatte er weitergemacht. Warum? Er wusste es. Um ihr nahe zu sein. Um sie zu spüren.
    Um nichts am Griff zu verwischen, fasste er den Bogen an den oberen und unteren Recurves und legte ihn aufs Bett. Endlich hatte er Abbys Fingerabdrücke. Einen vollständigen, einwandfreien Satz.
    Abby, mit einem Mal verunsichert, weil sie sich nicht erklären konnte, was da eben passiert war, wandte sich von ihm ab und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Das Zimmermädchen ist wirklich spät dran. Ich hoffe nur, dass wir nicht wieder Ärger in der Küche haben.«
    Jack hoffte auf einmal, sie würde jetzt gehen. Dann würde er sofort in der Rezeption anrufen und sich für den ersten Flug, in dem noch Platz war, vormerken lassen. Den Bogen ins Hauptquartier bringen, die Fingerabdrücke am Griff abnehmen lassen, sie durch die Datenbank des FBI jagen …
    »Der Wasserfall da sollte an sein.«
    »Wie bitte?«
    »Der Wasserfall in Ihrem Garten. Er sollte in Betrieb sein.«
    »Hab ihn abgestellt«, sagte er. »Er hat mich gestört.«
    Sie überlegte kurz. »Das hab ich noch nie bedacht. Bislang hielt ich das Plätschern vielmehr für beruhigend. Fragt sich, ob auch andere Gäste die Wasserspiele in ihrem Garten als störend empfinden.«
    Sie zog aus der Tasche ihrer beigen Leinenhosen ein winziges Aufnahmegerät. »Aktennotiz: Rücksprache mit Gordon wegen An- oder Abstellen der Springbrunnen und Wasserfälle im Wohnbereich der einzelnen Gäste«, sprach sie in das kleine Mikro, um dann das Minigerät wieder einzustecken. »Verbesserungsvorschläge sind mir jederzeit willkommen«, merkte sie lächelnd an.
     
    Er verlagerte sein Gewicht. Wollte, dass sie ging. Wollte, dass sie noch