Wildes Begehren
Unwissenheit ist keine Entschuldigung.«
6
C onner ließ den unerfahrenen Leoparden aus den Augen und erlaubte sich einen Blick zu Isabeau. Es verschlug ihm den Atem. Ihr Gesicht war bleich, die Augen glasig vor Schmerz, und Blut tropfte an ihrem Hals und ihrem Arm herab. Außerdem schwankte sie leicht, als wäre sie nicht ganz sicher auf den Beinen. Etwas in Conner zerbrach, und ein anderer Teil von ihm hätte sich am liebsten auf den jungen Leoparden gestürzt und ihn zerfleischt. Es war ein Leichtes, ihm zur Strafe die Kehle herauszureißen, und all seine Instinkte trieben ihn, genau das zu tun.
Einen langen Augenblick schien der Dschungel den Atem anzuhalten. Das Tier in Conner war kaum noch zu zügeln und bäumte sich immer wieder auf, um die Kraft und Entschlossenheit des Mannes zu testen. Felipe und Leonardo traten ins Freie und umkreisten den jungen Leoparden. Auch Elijah schob seinen Kopf durch die Blätter. Er war nah, viel zu nah an Isabeau.
Conners Leopard fauchte und fasste die neue Bedrohung für seine Gefährtin ins Auge. Roter Nebel nahm ihm die Sicht. In seinem Hirn schrillten Alarmglocken. Das Tier in ihm kämpfte mit Zähnen und Klauen um seine Freiheit.
Seine Muskeln begannen sich zu verzerren. Sein Kiefer schmerzte. Die Finger krümmten sich. Vor lauter Anstrengung, die Verwandlung zu unterdrücken, brach ihm am ganzen Körper der Schweiß aus.
Obwohl ihr Körper zitterte, kam Isabeau unerschrocken direkt auf ihn zu. »Conner?«, sagte sie sanft, aber mit Nachdruck.
Er zog sie an sich und hielt sie einen Moment fest, um dem beruhigenden Schlag ihres Herzens und ihrem gleichmäßigen Atmen zu lauschen. Es dauerte ein paar Minuten, seinen Leoparden wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Ausdünstungen der anderen Artgenossen und der starke Blutgeruch hatten das Tier in ihm an den Rand des Wahnsinns gebracht, doch dass Isabeau sich so bereitwillig von ihm anfassen ließ, besänftigte ihn so weit, dass er die Oberhand behalten konnte. Conner senkte den Kopf und betrachtete die Wunden an ihrem Hals. Der junge Leopard hatte darauf geachtet, die Halsschlagader nicht zu verletzen. Die Wunden bluteten zwar, waren aber nicht tödlich. Der Junge hatte offenbar nicht die Absicht gehabt, Isabeau umzubringen. Das würde Conner zwar nicht davon abhalten, ihm eine Lektion zu erteilten, doch es rettete ihm das Leben.
Conner fuhr mit den Fingerspitzen über die Verletzung und setzte dann nach Katzenart seine raue Samtzunge ein, um die Heilung zu beschleunigen. Der an Kupfer erinnernde Blutgeschmack mischte sich mit dem frischen Regen und dem Duft ihrer Haut. Offensichtlich erschöpft lehnte Isabeau die Stirn an seine Brust. Er musste sie so bald wie möglich irgendwo hinbringen, wo sie sich ausruhen konnte.
»Lass mich deinen Arm sehen, Sestrilla. « Damit zog Conner
ihr eilig den Ärmel hoch, um die Wunde freizulegen. In Höhe des Bizepses fehlte ein Stück Haut, aber es war nur eine Fleischwunde. Sie hatte Glück gehabt. »Im Wald kann man sich schnell infizieren«, sagte Conner so sanft, wie es ihm möglich war, wenn sein Leopard sich weigerte, sich zu beruhigen.
»In meinem Rucksack habe ich einige Gegenmittel«, verriet Isabeau. »Da ich mich ja mit Pflanzen wegen ihrer medizinischen Wirkung beschäftige, habe ich immer ein paar dabei.«
»Auch etwas, das Schmerzen lindert?«
»Schmerzmittel schlagen bei mir nicht besonders gut an«, erwiderte Isabeau, während sie bemüht war, ein schwaches Lächeln zustande zu bringen.
Conner war dankbar für dieses Lächeln. Wie sie versuchte, ihn damit zu trösten, ging ihm durch und durch. Anscheinend bereitete es ihr Sorge, dass er ihretwegen seine gewohnte Gelassenheit vermissen ließ. Sie hatte schon unter normalen Umständen Mühe genug, ihn auf Abstand zu halten, und nun da der Leopard und der Mann sich beide so aufregten, weil sie bedroht und verwundet worden war, musste sie das beunruhigen.
»Wir sollten gehen«, mischte Rio sich ein. Er war im Wald geblieben, wo Isabeau ihn nicht sehen konnte.
Conner wusste, dass das mit Scham nichts zu tun hatte, denn für Leopardenmenschen war Nacktheit etwas Normales. Wenn sie die Tiergestalt annahmen, trugen sie ihre Kleider meist bei sich, und dort, wo sie ständig lebten, gab es überall Verstecke, in denen sie Kleider lagerten, doch Hemmungen, sich vor den Augen der Artgenossen zu verwandeln, hatten sie nicht. Rio nahm nur Rücksicht darauf, dass
Isabeau anders aufgewachsen war, und auf Conners Reaktion.
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