Wildes Herz
wenn sie tat, was Catherine von ihr verlangte. Schweren Herzens hastete sie durch die Nacht, um nicht zu spät am Steinbruch zu sein.
Es regnete noch immer. Eiligst stellte sie sich zu den anderen, die als Tagelöhner an diesem Morgen schon feststanden. Emily konnte sie in der Menge nirgends entdecken.
Als Arsenath Nicholson sah, dass Éanna allein gekommen war, winkte er sie zu sich heran. »Wo ist deine Mutter?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen und irgendwie verärgert, als hätte Catherine ihn persönlich enttäuscht. Vielleicht war er eine Wette mit seinen Aufsehern eingegangen, wie lange Catherine Sullivan durchhalten mochte? Derartiges war Éanna schon des Öfteren zu Ohren gekommen.
»Es … es geht ihr heute nicht gut, Mr Nicholson«, antwortete sie, beeilte sich aber sofort hinzuzufügen: »Aber morgen sie bestimmt wieder obenauf sein!«
»Ja, ganz sicher! Frisch wie der junge Morgentau!«, erwiderte der Ganger spöttisch, schlug das Lohnbuch auf und strich den Namen Catherine Sullivan aus. Damit war die Sache für ihn erledigt.
Den ganzen Tag über sorgte sich Éanna um ihre Mutter und fragte sich voller Angst, wie es ihr gehen mochte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass es sich wirklich nur um eine Erkältung handelte und dass sich das Fieber schnell wieder legen würde.
Aber als sie im Dunkeln zur Erdhöhle zurückkehrte, fand sie ihre Mutter, wie sie dicht am Feuer kauerte. Ihr Körper wurde von Schüttelfrösten geschüttelt, und das Fieber war noch höher gestiegen.
Es zerriss Éanna das Herz, dass sie nichts für ihre Mutter tun konnte. Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie Catherine auch am folgenden Morgen allein lassen musste. Doch ihre Mutter ließ keine Widerworte gelten.
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, ehe sich der Tag abermals dem Ende zuneigte. Nach der Arbeit rannte Éanna nach Gilkagh, um etwas Milch und einige Löffel Honig zu kaufen sowie ein Kräutergemisch, das der Versicherung der Krämersfrau nach gut gegen Erkältungsfieber helfen sollte. Aber als sie am Scalpeen anlangte, wusste sie, dass alle verzweifelten Bemühungen vergebens waren. Nicht einmal ein Arzt hätte jetzt noch helfen können. Das Fieber verzehrte unerbittlich den letzten Rest Kraft, der Catherine geblieben war.
Éannas Mutter wusste selbst am besten, dass es ihrem Ende zuging. Éanna hatte ihr gerade etwas Milch mit Honig eingeflößt, als sie von ihrem Lager aufsah und nach der Hand ihrer Tochter griff.
»Éanna«, begann sie. Ihr Atem ging flach und mühsam. »Wenn . . . wenn es mit mir vorbei ist, musst du versuchen, dich nach Dublin durchzuschlagen.«
»Sag so etwas nicht!« Éanna kämpfte mit den Tränen.
»Wir alle müssen einmal sterben, mein Kind«, flüsterte Catherine. »So schlimm ist es nicht. Schlimm ist nur die Zeit davor. Und jetzt lass mich ausreden. Geh nach Dublin, hörst du?«
Éanna sah Catherine angstvoll an. »Aber warum, Mutter?«, fragte sie. »Ich war noch nie in einer Stadt.«
Catherine rang nach Luft. »Deine Großmutter – sie hatte einen Halbbruder. Er ist schon in jungen Jahren seinen eigenen Weg gegangen. Sie haben sich nicht gut verstanden.« Sie schwieg für einen langen Moment, und Éanna wagte nicht nachzufragen, aus Sorge, ihrer Mutter noch weiter zuzusetzen.
Doch etwas gab Catherine die Kraft weiterzusprechen. »Das letzte Mal haben wir vor über zwanzig Jahren von ihm gehört«, sagte sie. »Er hatte eine Tochter. Mary.« Sie lächelte Éanna an. »Sie war fast so schön wie du, mein Kind.«
Éanna drückte Catherines Hand. »Still, Mutter«, sagte sie flehend. »Du darfst nicht so viel sprechen. Du musst dich schonen!«
Catherine schüttelte mühsam den Kopf. »Nein. Hör mich an!«, erwiderte sie eindringlich. »Mary … sie ist nach Dublin gezogen. Sie hat eine gute Partie gemacht. Charles McCarthy, ein Schreiner. Sie werden dir helfen, das weiß ich. Geh, und finde sie. Das musst du mir versprechen!«
Erschöpft ließ sie sich zurücksinken. Die lange Rede hatte sie über alle Maßen angestrengt. Éanna tauchte einen Streifen Stoff, den sie aus dem Saum ihres Kleides gerissen hatte, in die Blechdose mit Wasser. Behutsam legte sie das kühle Tuch auf die glühend heiße Stirn der Mutter. Wenigstens das konnte sie noch für sie tun.
»Ich verspreche es dir, Mutter«, wisperte sie.
Sie dachte nicht daran, wie unmöglich es sein würde, eine Familie mit einem Allerweltsnamen wie diesem in Dublin zu finden. Sie dachte nicht daran, ob ihre
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