Wildes Herz
Verwandten noch leben mochten. Éannas Gedanken galten einzig und allein Catherine.
Später in der Nacht, als ihr das Atmen schon große Schwierigkeiten bereitete, ermahnte ihre Mutter sie noch einmal: »Vergiss nie deine Gebete, Éanna! Und dass du eine Sullivan bist!« Nach einer Pause heftigen Ringens nach Luft murmelte sie schließlich: »Nichts als Menschenwerk, Éanna. Nichts als Menschenwerk!«
Sie schloss die Augen.
Éanna kauerte sich neben sie und nahm den schmalen Körper in ihre Arme. Ein Kind mochte nicht viel weniger wiegen.
Die Tränen rannen ihr haltlos übers Gesicht, als sie leise anfing zu singen.
»Hush, little baby, don’t say a word. Mama’s gonna buy you a mockingbird.« Die Worte kamen erst zittrig, doch dann immer kraftvoller über ihre Lippen, als sie daran dachte, wie ihre Mutter dieses Lied für sie gesungen hatte, als Éanna noch klein gewesen war.
»And if that mockingbird won’t sing, Mama’s gonna buy you a diamond ring.«
So lagen sie beieinander, bis der Morgen graute, und Éanna hörte nicht auf zu singen – all die Lieder aus den schönen Zeiten, die sie zusammen erlebt hatten, damals, als der Vater noch am Leben war, die Geschwister und Granny Kate.
Langsam tasteten sich die zaghaften Strahlen der grauen Morgendämmerung in die Höhle, aber noch immer wich Éanna ihrer Mutter nicht von der Seite, sondern umfasste sie nur fester, als Catherine sich im letzten und heftigen Kampf aufbäumte.
Als es endlich vorüber war, deckte Éanna ihre Mutter fürsorglich zu, als könnte sie dadurch den letzten Rest Wärme in dem leblosen Körper halten. Dass sie ihre Arbeit im Steinbruch verloren hatte, berührte sie in ihrem Kummer überhaupt nicht.
Mit steifen Gliedmaßen erhob sie sich, um aus dem nahen Bach Wasser zu holen. Zärtlich wusch sie ihrer Mutter den Schmutz von Gesicht und Händen. Dann kämmte sie ihr das Haar und kratzte ihr mit einem dünnen Stück Holz den Schmutz aus den Fingernägeln.
Den ganzen Nachmittag und die darauffolgende nächste Nacht hielt sie Totenwache an der Seite ihrer Mutter. Sie weinte, betete für ihre Seele und sang nun die Totenlieder ihrer Heimat, so wie es Brauch war.
Am nächsten Morgen machte sie sich auf die Suche nach einem Leichenbestatter. Sie brauchte nicht lange nach einem Ausschau zu halten. Mit ihren Pferdewagen oder Eselskarren fuhren solche Leute auf der Landstraße auf und ab. Sie führten billige Brettersärge und Leichentücher aus alten Kartoffelsäcken oder Strohmatten mit sich und sammelten diejenigen Toten auf, deren Hinterbliebene noch das Geld besaßen, um sie für ihre Dienste bezahlen zu können.
Éanna hielt den ersten Leichenbestatter an, der ihr begegnete. Gleich hinter dem Kutschbock türmten sich sechs Särge auf, die mit Stricken auf der Ladefläche festgezurrt waren – krumme Kisten, aus allen möglichen Bretterresten nachlässig zusammengenagelt. Der Mann bediente ganz offensichtlich eine Kundschaft, die nicht einmal genug Geld hatte, um die billigsten unter den gewöhnlichen Särgen bezahlen zu können.
Der Mann hielt sein Fuhrwerk neben ihr an. Er sah gut genährt aus, war von stämmiger Gestalt und hatte einen buschigen Walrossbart, der seinen Mund halb überwucherte. Er roch nach dem Bier, das er sich offenbar schon am Morgen als Stärkung in einer Dorfschenke genehmigt hatte.
»Was soll’s denn sein?«, fragte er überflüssigerweise.
»Meine Mutter ist gestorben. Was nehmt Ihr für einen Eurer Bretterkisten und für den Transport zum Friedhof in Gilkagh?«, erwiderte Éanna knapp.
»Sechs Pence für den Leihsarg und zwei für den Transport«, antwortete der Mann nach einem kurzen, taxierenden Blick. »Einen besseren Preis macht dir keiner auf dieser Strecke.«
»Ich will keinen Leihsarg für meine Mutter!«, sagte Éanna mit fester Stimme. »Sie soll auch nicht in einem lumpigen Leichentuch aus alten, zusammengeflickten Kartoffelsäcken in ihr Grab.«
»Dann wirst du schon zwei Shilling rausrücken müssen.«
Zornig blitzte sie ihn an. »Zwei Shilling für das bisschen Brettergelumpe, das Ihr vielleicht noch aus unseren eigenen eingerissenen Häusern zusammengesammelt habt?«, rief sie. »Ich biete Euch einen Shilling, und damit seid Ihr gut bezahlt!«
Im ersten Moment sah er verdutzt zu ihr herunter. Dann sagte er unwirsch: »Wenn du dir selber so einen Sarg zusammenzimmern könntest, würdest du ja wohl kaum hier stehen, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Du bist mir ja eine schöne
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