Wildes Herz
herausgekommen wäre – vielleicht hätte ihre Mutter doch noch das Fieber überwinden können.
Der Fuhrmann setzte Éanna zur frühen Mittagsstunde kurz vor dem großen Marktplatz in Ballinasloe ab. Auf den letzten Meilen hatte sie mit sich gerungen, ob sie ihn um etwas zu essen oder gar um einen halben Penny anbetteln sollte. Aber letztlich brachte sie die Bitten doch nicht über ihre Lippen. Dafür waren Scham und Stolz noch zu groß.
Mit wachsender Benommenheit ging Éanna durch die bevölkerten Straßen von Ballinasloe, der ersten Stadt, in die sie ihren Fuß setzte.
Und je weiter sie kam, desto schwerer wurde es für sie, die Fassung zu bewahren.
Nicht wegen der vielen Gassen und der großen Zahl mehrstöckiger Häuser. Sie waren aus Mauersteinen und festem schwarzem Balkenwerk gebaut, statt aus Lehm und Astgeflecht errichtet. Dächer aus Schieferplatten schützen sie und wunderschöne Gardinen hingen vor den Glasfenstern.
Éannas Fassungslosigkeit rührte auch nicht von den zahllosen Bettlern und abgerissenen Gestalten her, auf die sie überall stieß. Der Anblick der Männer, Frauen und Kinder mit ihren ausgehöhlten Gesichtern und den spindeldürren Gliedern, deren spitze Knochen durch die Lumpen stachen, war ihr längst allzu vertraut.
Nein, was sie erschütterte und wie betäubt durch die Straßen gehen ließ, waren die Lebensmittelgeschäfte zu beiden Seiten. Da wimmelte es in den Auslagen hinter den Schaufenstern nur so von Essen aller Art.
Das meiste davon hatte Éanna noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Hier bogen sich die Bretter einer Bäckerei unter den verschiedenen Brotsorten, Kuchen, mit feinstem Zucker bestäubten Kränzen, Krapfen und anderen Backwaren. Dort zeigte eine Metzgerei in Überfülle, was sie ihren Kunden an diesem Tag an vielerlei Würsten, Schinken, Pasteten und frisch geschlachtetem Fleisch zu bieten hatte. Und gleich daneben lockte der nächste Laden mit Dutzenden Obstkonserven, Marmeladen, Honigsorten, Naschwerk, Schokoladen und anderen Köstlichkeiten. Dann waren da die Tee- und Tabakläden, das Fischgeschäft, der Getreidehändler mit seinen großen randvollen Tonnen. Und aus all diesen Läden drangen herrliche Düfte auf die Straße, die Éanna in ihrem nagenden Hunger fast den Verstand zu rauben drohten.
Jetzt sah sie mit eigenen Augen, was ihr Vater, die Mutter und die Nachbarn so oft voll ohnmächtiger Wut beklagt hatten. Dass es in Irland wirklich mehr als genug Lebensmittel gab, auch wenn noch so viel Getreide und Vieh tagtäglich nach England verschifft wurden. Es hätte für alle gereicht, nur konnten sich die Hunderttausenden von Kleinpächtern, die durch die zweijährige Kartoffelfäule in elendste Mittellosigkeit gestürzt waren, nicht einmal Brot und Haferschleim leisten, geschweige denn all das, was hier in Ballinasloe zur Schau gestellt wurde.
Éanna biss sich die Lippen wund und versuchte, ihrem aufkeimenden Zorn Herr zu werden. Es war der gleiche Zorn, der ihren Vater in seinen letzten Lebensmonaten zusätzlich zu dem täglichen Hunger von innen aufgefressen hatte. Zwar sagte ihr die Vernunft, dass kein noch so wohlmeinender Ladenbesitzer es sich leisten konnte, vor seiner Tür Almosen zu verteilen. Sofort hätte sich ein wahres Heer der Hungerleider auf ihn gestürzt, die in den Straßen kauerten. Und dennoch, warum wurde nicht mehr getan, um ihnen aus dem Elend zu helfen und sie vor dem Hungertod zu bewahren? Wo waren all die Christen, die sonntags in die Kirchen des Landes strömten?
Eine erste Antwort erhielt Éanna wenig später, als sie den Markt erreichte. Auch hier wimmelte es nur so von Ständen, Buden und Ladenfuhrwerken, die alle nur erdenkliche Lebensmittel feilboten. Eine Gruppe von gut zwanzig, dreißig Bettlern hatte sich dort versammelt. Kaum einer der Vorbeikommenden warf etwas in die stumm hingehaltenen Schüsseln. Zu lange dauerte die Hungersnot schon – zu viele Elendsgestalten erhofften sich ein Almosen von den Einwohnern und den Durchreisenden.
Doch plötzlich geriet Bewegung in die kleine Gruppe. Éanna hörte im Näherkommen eine Frauenstimme aufgeregt rufen: »Eine Suppenküche! Eine Suppenküche hat unten am Fluss ihre Zelte aufgeschlagen!«
Sofort rannten, humpelten und wankten die Bettler der Frau nach. Der Ruf wurde von anderen hinter Éanna aufgenommen und weitergetragen, und immer mehr Hungervolk strömte zusammen.
Sie überlegte nicht lange, sondern eilte den Leidensgefährten nach und gelangte mit der
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