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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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Tochter! Deine Mutter ist tot, und du versuchst, mit mir zu schachern!«
    »Und was ist mit Euch?«, gab Éanna bitter zurück. »Wollt Ihr an meinem Elend reich werden, Mister? Genügt es Euch nicht, dass es mehr als genug Arbeit für Euch und Eure schäbigen Leihsärge gibt?«
    Der Leichenbestatter zog ein Ende seines Walrossbartes zwischen die Lippen und kaute darauf herum. »Also gut, ich überlass dir einen der Särge für einen Shilling und neun Pence«, lenkte er ein.
    »Ein Shilling und drei Pence!«, hielt Éanna dagegen.
    »Ein Shilling und sechs Pence!«, kam er ihr um weitere drei Pence entgegen. »Aber so wahr ich George O’Connor heiße, das ist mein letztes …«
    »Einverstanden!«, fiel Éanna ihm ins Wort. »Aber dafür helft Ihr mir, meine Mutter aus dem Scalpeen zu tragen!«
    »Der Teufel soll meine Weichherzigkeit holen. Sie wird mich und meine Familie noch mal ins Grab bringen. Aber gut, dann soll es so sein. Ein Shilling und sechs Pence.«
    Éanna führte den Mann zu dem Scalpeen, aus dem sie Catherines Leiche holten, und sie in eine der armseligen Bretterkisten legten. Der Leichenbestatter nagelte den Deckel mit ein paar krummen, rostigen Nägeln zu und fuhr dann mit Éanna an seiner Seite nach Gilkagh zum Friedhof.
    Beim Ausheben der Grube musste sie mit anpacken. Sie scheute sich nicht vor der Arbeit, war es doch mit das Letzte, was sie für ihre Mutter tun konnte.
    Für ein einfaches Kreuz aus zwei Latten reichte es nicht. Aber es war ihr ein Trost, dass Catherine in ihrem eigenen Sarg in geweihter Erde ruhte, wie schäbig das Begräbnis auch gewesen sein mochte. Ihre letzte Münze, einen halben Penny, gab Éanna für die Kerze aus, die sie in der Kirche vor dem Bildnis der Muttergottes aufstellte.
    Gute zwei Stunden verbrachte sie am Grab ihrer Mutter, das in einer langen Reihe so vieler anderer namenloser Gräber lag. Dann verließ sie den Friedhof von Gilkagh – ohne die kleinste Münze, ohne ein Stück Brot in ihrem Beutel, ohne Ziel und ohne Hoffnung. Selbst Tränen hatte sie keine mehr.

Sechstes Kapitel
    Zum Steinbruch kehrte Éanna nicht mehr zurück. Es war zwecklos, die Zeit und die Kraft für den Weg dorthin zu verschwenden. Arsenath Nicholson würde sie nicht wieder in die Kolonnen seiner Tagelöhner aufnehmen. Schon in den Tagen, in denen ihre Mutter sie nicht mehr begleitet hatte, war sein Interesse an ihr erloschen. Beim abendlichen Auszahlen des Lohns hatte er nicht einmal den Kopf gehoben, geschweige denn nach ihrer Mutter gefragt.
    Und so folgte Éanna einfach der Straße, die von Gilkagh weiter nach Osten führte und sich dabei über das leicht hügelige Land mit seinen weiten Feldern und Äckern schlängelte. Dabei dachte sie nicht daran, dass dort irgendwo, viele Tagesmärsche entfernt, auch Dublin lag. Eine tiefe Gleichgültigkeit überkam sie in ihrem Kummer.
    Mehr als einmal fühlte sie sich versucht, sich an einer der grauen Feldmauern ins Gras sinken zu lassen und aufzugeben. Doch dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die sie ermahnte, nicht zu vergessen, dass sie eine Sullivan sei. Und eine Sullivan gab nicht auf, solange noch Leben in ihr war.
    Bei der kleinen Ortschaft Castleblakeney stieß sie auf einen Fuhrmann, der Fässer geladen und kurz angehalten hatte, um seine Pfeife wieder in Brand zu setzen. Als sie mit hängendem Kopf an ihm vorbeischlurfte, weckte sie sein Mitleid. Denn er sprach sie an und fragte, wohin sie wolle.
    Éanna zuckte nur mit den Achseln.
    »Ich fahre nach Ballinasloe, dort ist diese Woche Pferdemarkt«, sagte er freundlich. »Wenn du möchtest, nehme ich dich bis dorthin mit.«
    Éanna starrte ihn ungläubig an. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann ein Fremder ihr in der letzten Zeit seine Hilfe angeboten hatte. Sie dankte ihm mit schwacher Stimme und stieg zu ihm auf den Kutschbock.
    Éanna war in ihrem ganzen Leben noch nie weiter als ein paar Meilen von ihrem Dorf fort gewesen, geschweige denn in eine kleine Stadt wie nach Ballinasloe gekommen. Aber ihr war es recht, dass es dorthin ging. Jeder Ort wäre ihr recht gewesen.
    Das Wetter hatte kurz hinter Ashasgrah, wo sie den Fluss überquerten, endlich Einsehen. Die dichten Wolken verzogen sich langsam und mit ihnen der tagelange Dauerregen. Irgendwann lugte sogar die Herbstsonne durch die ausgefransten blauen Felder, die sich in der Wolkendecke auftaten.
    Éanna sah es mit Erbitterung. Es war, als wolle der Himmel sie verhöhnen. Wenn die Sonne ein paar Tage früher

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