Wildes Herz
ihre gottlosen Gebete an die Götzen sogenannter Heiliger richteten. Alles in einem war es mehr eine Strafpredigt als ein Gebet. Abermals verließen einige unter leisen wie lauten Verwünschungen zornig das Zelt.
Éanna blieb. Sie hatte Hunger und konnte den Blick einfach nicht von den Kesseln und Schüsseln nehmen. Mit dem Donnerruf »Niemand kann Gott und zugleich dem Teufel dienen, nehmt euch das zu Herzen und geht in euch!« kam der Priester endlich ans Ende seiner Belehrungen und gab das von allen herbeigesehnte Zeichen, das Essen aufzutragen.
Frauen in schwarzen, knöchellangen Kleidern, makellos weißen Schürzen und hohen, steifen Hauben traten mit den Schüsseln an die Tische und füllten mit ihren Schöpfkellen die angeketteten Blechteller.
Éanna glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie sah, dass auf der dicken Suppe nicht nur Fettaugen schwammen, sondern sich darin sogar allerlei kleine Fleischstücke fanden.
»Das sieht dieser hinterlistigen Brut ähnlich«, zischte eine junge Frau schräg gegenüber von Éanna. »Tischen uns Fleisch am Freitag auf! Wo sie ganz genau wissen, dass Katholiken am Freitag niemals Fleisch essen. Ein paar Heringsstücke wären sie viel billiger gekommen. Der Teufel soll sie holen!« Abrupt stieß sie ihren Teller von sich, stand auf und verließ das Zelt. Ihr freier Platz wurde sofort von einem der vielen anderen Hungerleider eingenommen.
Éanna schluckte. Sie hatte nicht gewusst, dass Freitag war. Sie rang kurz mit sich. Sich vor dem Essen nicht bekreuzigen zu dürfen, war alles andere als christlich. Aber Fleisch zu essen an einem Freitag, das wäre in ihrer Familie selbst in den besten Zeiten undenkbar gewesen.
Sie zögerte. Was hätte Catherine wohl getan? Du musst bei Kräften bleiben, klang die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf.
Aber zu welchem Preis?
Éanna schluckte abermals, doch dann konnte sie der Verlockung der warmen Fleischsuppe nicht mehr widerstehen. Stumm bat sie Gott, ihr nachzusehen, dass sie nicht das Kreuz schlug. Er würde verstehen, dass sie es unterlassen musste.
Sie griff nach ihrem Löffel und musste an sich halten, um die Fleischsuppe nicht allzu gierig in sich hineinzuschlingen. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass einige andere versuchten, sich verstohlen zu bekreuzigen. Aber die Frauen mit ihren strengen Mienen und der Priester hatten scharfe Augen. Sowie sie heimliche Bekreuzigungen sahen, knallte ein Gertenstock neben dem Betreffenden auf den Tisch. »Aufstehen und raus! Hast du undankbarer Irrgläubiger nicht gehört, dass wir hier keinen Papisten-Aberglauben dulden?«
Ein abgemagerter Mann, der ertappt wurde, spuckte dem Priester einen Fleischbrocken vor die Füße. »Dafür wirst du in der Hölle brennen, du Teufel im Priestergewand!«, rief er laut und wankte aus dem Zelt.
Éanna versuchte, all das um sich herum zu ignorieren. Löffel um Löffel schob sie sich in den Mund. Sie konnte kaum schnell genug schlucken, so wie sie das Essen in sich hineinschaufelte. Nur rasch essen, und dann nichts wie weg hier!
Doch mit jedem Löffel wuchs in ihr nicht nur das Schuldgefühl, ihren Glauben für einen Teller Suppe verraten zu haben, sondern auch das Unwohlsein in ihrem Magen. Sie hatte mit ihrer Mutter tagelang nur noch von ein wenig Haferschleim und Brot gelebt. Die fette, fleischige Suppe bekam ihr nicht.
Die Übelkeit wurde immer stärker. Ihr Teller war noch nicht einmal ganz leer, als das Essen ihr bedrohlich in die Kehle stieg. Sie ließ den Löffel fallen, sprang von der Bank auf, schlug in einem Reflex das Kreuz und rannte auch schon ins Freie.
Kaum hatte sie ein Dutzend Schritte vom Zelt weg in Richtung des Flussufers gemacht, als sie sich übergeben musste. Mit einer Hand stützte sie sich gegen den Stamm eines Baumes. In bitteren, sauren Wellen schoss ihr das Essen in die Kehle und brach aus ihrem Mund. Ihr war, als stülpte sich ihr Magen um. Sie würgte und spuckte und ging vor Anstrengung zitternd in die Knie. Endlich war es vorbei.
Eine ganze Weile blieb sie so im Gras knien. Tränen liefen ihr über das Gesicht, während sie nach Atem rang.
Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich wieder aufzurichten. Nicht nur körperlich fühlte sie sich entsetzlich elend. Die Beschämung und die Vorwürfe, die Éanna sich machte, waren so bitter wie der Nachgeschmack des Erbrochenen in ihrem Mund. Wie tief war sie bloß gesunken? Warum war sie nicht gleich aufgestanden, als sie gehört hatte, was dieser Priester und
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