Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
Vom Netzwerk:
wie auf Wolken über dem Dreck des Lebens schweben?
    Hatten solche Menschen wohl jemals davon gehört, dass ein schäbiger Leihsarg sechs Pence kostete und damit immer noch mehr, als die meisten hungernden Kleinpächter für ihre Toten bezahlen konnten? Hatte er in seinem Leben einen Blick in einen Scalpeen geworfen?
    Éanna bezweifelte es, und in ihre Bitterkeit mischte sich Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt. So einer wie dieser da mochte in Reichweite stehen und war dennoch unberührbar. Zwischen ihm und ihr stand eine unsichtbare Wand, die keinen Blick zuließ auf das Leben des anderen.
    Sie wollte sich schon abwenden und weitergehen, als sie bemerkte, dass der junge Herr seinen Spazierstock an den Rahmen des offen stehenden Kutschenschlags stellte. Er brauchte eine freie Hand, um seine Kleidung zurechtzuziehen, die vom langen Sitzen ganz verknittert war. Schließlich ging er nach vorn zum Kutscher, der sich am Geschirr der beiden grauen Apfelschimmel zu schaffen machte. Den Spazierstock, der oben einen wunderschönen Silberknauf in Form eines Löwenkopfes besaß, ließ er stehen, als hätte er ihn in dem kurzen Moment des sich Reckens und Zurechtzupfens völlig vergessen. Und so war es auch, denn nachdem er mit dem Mann ein paar Worte gewechselt hatte, ging er vorn um die Pferde herum und verschwand durch die Tür in der Taverne, sicherlich, um sich dort eine deftige Mahlzeit und einen Krug Bier auftischen zu lassen.
    Éanna konnte hinterher nicht sagen, was in den nächsten Augenblicken in ihr vor sich gegangen war. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas genommen, was ihr nicht gehörte. Nicht einmal Beeren hatte sie heimlich auf dem Land ihres Grundherrn gesammelt, geschweige denn versucht, in den Bächen und Flüssen rund um den herrschaftlichen Besitz zu wildern. Nie hatte sie fremdes Gut angerührt.
    Nun jedoch zwang sie etwas geradewegs auf die Kutsche mit dem offenen Schlag und dem dort vergessenen Spazierstock zu. Alles, was sie spürte, war das Jagen ihres Herzens. Und als würde ihr eine fremde Stimme in ihrem Kopf zuflüstern, was zu tun war, hob sie mit der linken Hand ihren langen, verdreckten Umhang ein wenig an, sodass er vor ihrer Brust einen Spaltweit aufklaffte. Schon hatte sie den offenen Kutschenschlag erreicht. Ihre Rechte streckte sich kurz nach dem angelehnten Spazierstock aus, packte ihn mit einer fließenden Bewegung am Knauf und ließ ihn unter ihrem Umhang verschwinden.
    Es durchfuhr sie heiß, und tief in ihr drin machte sich so etwas wie Triumph über ihre gelungene Tat breit. Am liebsten wäre sie losgerannt, doch sie wusste, dass sie sich beherrschen musste, ihren trägen Schritt beizubehalten.
    Jetzt nur nicht auffallen, hinüber auf den Markt, dort im Gewimmel erst einmal untertauchen und dann nichts wie weg in den nächstgrößeren Ort, wo es einen Pfandleiher gab! Natürlich würde der ihr niemals auch nur annähernd das zahlen, was der Spazierstock mit dem Silberknauf wert war. Ein Blick auf ihre abgerissene Gestalt, und er würde sofort wissen, dass sie ihn gestohlen hatte. Aber zwei, drei Shilling würde er wohl herausrücken. Damit würde sie für mindestens eine Woche Brot und Haferflocken kaufen können. Und dann – mit einem Mal wurde die Hoffnung in ihr übermächtig –, dann könnte sie vielleicht einen Weg finden, sich nach Dublin durchzuschlagen und das Versprechen an ihre Mutter einzulösen.
    Sie wusste nichts von diesen Verwandten, wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben waren oder in diesen schlechten Zeiten bereit waren, einem Waisenmädchen wie Éanna zu helfen. Aber einen Versuch war es jedenfalls wert.
    Sie befand sich gerade auf der Höhe des Kutschers, der noch immer am Geschirr hantierte, als hinter ihr plötzlich eine laute, kehlige Stimme rief: »Halt, du da! Bleib sofort stehen! Ich habe gesehen, was du da gemacht hast!«
    Sie hätte sofort losrennen sollen, dann wäre sie womöglich noch entkommen. Aber der scharfe Anruf traf sie wie ein Schlag und ließ sie erstarren. Da packte sie auch schon eine grobe Hand am Kragen, hielt sie unbarmherzig fest und zerrte sie herum.
    »Dreckige Diebin!«, schrie der breitschultrige Mann vor ihr. Er musste Metzger sein, denn er trug eine große Lederschürze, die mit frischem Blut und feinen Fleischfäden beschmiert war.
    Seine Schreie hatten die Aufmerksamkeit einiger Passanten rund um die Kreuzung erregt. Sofort kamen sie näher und zogen wieder andere Neugierige mit sich, die sehen wollten, was da vor der

Weitere Kostenlose Bücher