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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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seine wiedergeborenen Freunde Jesu von ihnen an Demütigungen verlangten?
    Was waren das für Menschen, die Hungernden nur dann zu essen geben wollten, wenn sie ihren Glauben verleugneten, fragte sie sich verzweifelt. Die kleinwüchsige Frau, die trotz ihres Hungers lieber zum Betteln in die Stadt zurückgekehrt war, hatte recht gehabt: Diese Leute waren nichts anderes als Seelenfänger!

Siebtes Kapitel
    Tief bedrückt streifte Éanna ziellos durch die Gassen und Straßen von Ballinasloe. Schneller als gedacht, stellte sich wieder der Hunger ein. Das nagende Tier in ihr hatte sich nicht länger als eine gute halbe Stunde irgendwo in ihr verkrochen. Nun kehrte es mit aller Macht zurück und setzte ihr schlimmer zu als zuvor. Es war Mittagszeit, und aus den Geschäften und Häusern drangen verlockende Essensdüfte.
    Éanna holte ihren Holzteller aus dem Beutel und versuchte sich zum ersten Mal in ihrem Leben im Betteln. Ihr brannten die Ohren vor Scham, als sie den Teller den Vorbeieilenden entgegenstreckte. Doch vergeblich. Sie versuchte es sogar vor den Türen von zwei Bäckereien. Kaum hatte sie sich dort aufgestellt, als auch schon der Bäcker aus dem Laden eilte und sie grob anranzte.
    »Mach, dass du hier wegkommst, und steh meiner Kundschaft nicht im Wege!«, zischte er ärgerlich. »Wofür gibt es schließlich Suppenküchen? Verschwinde, sonst bekommst du es mit dem Konstabler zu schaffen!«
    Mit hochrotem Kopf lief Éanna davon und bog hastig um die nächste Ecke, um den missbilligenden Blicken des Bäckers zu entkommen. Sie hätte nie geglaubt, dass Betteln so schwer und so demütigend sein konnte. Aber irgendwie musste sie etwas in den Magen bekommen.
    Dies war nun schon der zweite Tag, an dem sie nichts als kaltes Wasser zu sich genommen hatte – mal abgesehen von der Suppe, die sie sofort wieder von sich gegeben hatte. Fast bereute sie, nicht doch einen Leihsarg genommen zu haben. Wäre es in ihrer Lage nicht vernünftiger gewesen? Ihre Mutter hätte es bestimmt nicht gewollt, dass sie für ihre Beerdigung auch noch ihren letzten halben Penny hergab.
    Aber kaum hatte sie sich bei diesen Überlegungen ertappt, als sie sich ihrer Gedanken auch schon sofort schämte. Wie konnte sie es nur zulassen, dass ihr Zweifel an ihrem Handeln kamen? Es war richtig gewesen, was sie getan hatte. Auch wenn es ihre letzte Münze gekostet hatte! Sie hätte es sich nie verziehen, wenn sie aus Angst vor dem Hunger ihre Mutter in lumpigen Kartoffelsäcken begraben hätte.
    Wenn niemand ihr einen Almosen in ihren Holzteller legte, würde sie eben draußen vor der Stadt und an den Flussufern nach Beeren und essbaren Wurzeln suchen – auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie nur leer gepflückte Sträucher vorfinden würde, bei den vielen Hungernden in der Stadt groß war.
    Entschlossen setzte sich Éanna in Bewegung. Sie durfte jetzt nicht aufgeben – das wenigstens hätte ihre Mutter von ihr erwartet. Kurz bevor sie die nächste Kreuzung erreichte, wo es nach links wieder zum Markplatz ging, fiel ihr Blick auf eine rotbraun lackierte Kutsche. Sie stand zusammen mit einem Fuhrwerk, das ein Stück weiter vor ihr angehalten hatte, vor einer Taverne. Das bunte, mit goldenem Blech verzierte Holzschild verkündete mit geschwungenen Lettern und einem dazu passenden Bild, dass es sich um den Gasthof Zum schwarzen Ochsen handelte.
    Unwillkürlich blieb Éanna stehen, als sie sah, wie ein junger Mann mit vollem, schwarz gewelltem Haar schwungvoll aus der Kutsche sprang. In der linken Hand hielt er eine zusammengerollte Zeitung, in der rechten einen Spazierstock. Er mochte vielleicht gerade zwei, drei Jahre älter sein als sie, doch welche Welten klafften zwischen ihnen!
    Allein seine rehbraunen Lederstiefel hatten sicherlich mehr gekostet, als ihre Familie jemals an Wert besessen hatte. In den Stiefeln steckten helle, sandfarbene Hosenbeine. Darüber trug er ein helles Hemd mit einer beige-braun karierten Weste, aus deren Seitentasche der Bogen einer goldenen Uhrkette hervorschaute. Die seidige Krawatte hatte er mit großen, herabfallenden Schleifen um den Hemdkragen gebunden. Ein herrlicher Überrock aus fein geripptem Samtcord mit sechs goldenen Knöpfen auf der Vorderseite und vier weiteren hinten über den Rockschößen reichte ihm bis zu den Oberschenkeln.
    Éanna fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, solch feine Sachen am Körper zu tragen. Sie wusste, dass ihr das niemals vergönnt sein würde. Musste man dann nicht

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