Wildes Herz
besorgt zu den anderen Gästen hinüber.
»Dann bin ich ja beruhigt«, sagte Patrick O’Brien. »Bring dem Mädchen eine kräftige Suppe, aber ohne Fleisch. Und auch einen Becher mit warmer Milch. Mein Essen kann bis später warten. Was ist? Habt Ihr noch Fragen? Nein? Gut, dann macht Euch an die Arbeit.« Damit wandte er ihm den Rücken zu und bedeutete Éanna mit einer knappen Kopfbewegung, ihm in den hinteren Teil der Schankstube zu folgen, die leer war.
»Nun nimm schon Platz!«, forderte er sie auf, als Éanna mit vor Scham brennenden Wangen und gesenktem Blick vor dem Tisch stand.
Éanna setzte sich, wagte jedoch nicht, es sich auf dem Stuhl bequem zu machen. Steif hockte sie auf der Stuhlkante, ohne die Arme auf den ungewohnten Lehnen abzustützen, und blickte zu Boden.
Patrick O’Brien legte seinen Spazierstock quer über den Tisch, nahm auf der anderen Seite Platz, griff zu seiner Zeitung und schlug sie auf, als gäbe es zu dem Vorfall auf der Straße nichts weiter zu sagen.
Die Männer, die im vorderen Teil der Taverne saßen, warfen ihnen missmutige Blicke zu, doch bald schon nahmen sie ihre Gespräche wieder auf.
Eine Weile lauschte Éanna mit pochendem Herzen dem Rascheln der Zeitungsseiten. Den teuren Spazierstock auf dem Tisch empfand sie wie eine stumme Anklage. Ihr war, als fauchte der Rachen des silbernen Löwenkopfes sie geradezu an. Sie verstand noch immer nicht, was bloß in sie gefahren war, als sie vorhin versucht hatte, ihn zu stehlen. Diese Éanna, die sich an fremdem Eigentum vergriff, war ihr fremd und erschreckte sie.
Im Kamin neben ihnen brannte ein kräftiges Feuer aus dicken Holzscheiten, das anders als Torf viel Wärme ausstrahlte. Langsam wurde Éanna warm. Verstohlen zog sie die Mütze vom Kopf, nahm auch den Schal ab und schob sich beides unter ihren rechten Oberschenkel. Sie wagte nicht, die dreckigen Sachen zu dem Spazierstock auf den Tisch zu legen.
Schließlich ertrug sie das Schweigen nicht länger. »Warum habt Ihr das für mich getan?«, fragte sie leise. Der Anstand verlangte es, ihm ins Gesicht zu blicken, auch wenn sie vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Sie hatte ihn bestehlen wollen, und nun hatte er sie nicht nur vor jahrelangem Gefängnis bewahrt, sondern sie auch noch zu einer Mahlzeit in diese Taverne geführt.
Patrick O’Brien ließ die Zeitung sinken. »Warum? Das ist eine gute Frage.« Er runzelte die Stirn und machte ein grüblerisches Gesicht, als müsste er erst selbst darüber nachdenken, bevor er ihr darauf eine Antwort geben konnte. »Nun, nach dieser schrecklich langweiligen Fahrt hierher hat es mir einfach Spaß gemacht, diesem aufgeblasenen Fleischer die Suppe zu versalzen. Ein Pfau hätte sich nicht mehr aufplustern können als dieser Kerl, der wohl glaubte, wunder was für eine Heldentat vollbracht zu haben.«
Es hatte ihm Spaß gemacht? Hatte sie ihn wirklich richtig verstanden? Sie forschte in seinem gut aussehenden Gesicht nach einem Hinweis, ob er seine Worte ernst meinte oder sich über sie lustig machen wollte. Ihr war, als könnte sie in seinen Augen, die mit ihrem tiefdunklen Blau fast die Farbe seiner Haare besaßen, ein vergnügtes Funkeln entdecken. Aber sicher war sie sich nicht.
»Nun, dann danke ich Euch, dass Ihr mir mit Eurem Spaß viele Jahre Gefängnis erspart habt, Mr O’Brien«, murmelte sie und wich seinem Blick schnell wieder aus.
»War mir ein Vergnügen«, sagte er leichthin, als hätte es sich um eine Kleinigkeit gehandelt, die keiner großen Worte bedurfte. »Wie heißt du überhaupt?«
»Éanna … Éanna Sullivan.«
»So, Éanna Sullivan«, wiederholte er ihren Namen und wiegte den Kopf, als lauschte er seinem Klang nach. »Und wo kommst du her?«
»Aus einem Dorf östlich von Galway«, antwortete sie. Mit dem Namen hätte er sicherlich nichts anfangen können, so winzig war ihr Heimatort.
»Was ist mit deiner Familie?«
»Tot«, gab sie leise zur Antwort.
»Hmm«, machte Patrick O’Brien und ließ seinen Blick einen langen Augenblick nachdenklich auf ihr ruhen. »Mir scheint, dass du dich bei der Sache dort draußen nicht allzu geschickt gezeigt hast, wenn so ein Wichtigtuer wie dieser Fleischer dich dabei erwischt hat. Du solltest dir besser etwas anderes einfallen lassen, falls du nicht Bekanntschaft mit Gefängniswärtern machen willst. Ein so hübsches Mädchen wie du müsste dort nämlich mit allerlei Unannehmlichkeiten rechnen, wie ich gehört habe.« Er schränkte seine Worte
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