Wildes Herz
habe.«
Der Spott und die unerschütterliche Selbstsicherheit trieben dem Mann die Zornesröte ins Gesicht. Doch er sah wohl ein, dass seinem Gast einfach nicht beizukommen und schon gar nicht die unverschämt gute Laune zu verderben war. Wortlos wandte er sich ab und stiefelte zum Ausschank zurück.
»Das wäre nicht nötig gewesen, Mr O’Brien«, sagte Éanna mit Blick auf den Brotlaib, der ganz ihr gehören sollte. Plötzlich war sie wieder furchtbar beschämt. »Ihr habt schon mehr für mich getan, als ich es verdient habe.«
Ein Lächeln, das zwischen Spott und Bitterkeit lag, zeigte sich auf seinem Gesicht. »Ja, ist es nicht immer wieder beruhigend zu wissen, dass man zum Glück im Leben nicht immer das bekommt, was man verdient hat?« Und dann schien er von einem Augenblick zum anderen ihrer überdrüssig zu sein. »Also, dann lass dich nicht länger aufhalten, Éanna Sullivan«, sagte er. »Und denke daran, was ich dir gesagt habe. Finger weg von fremden Spazierstöcken und Sonstigem, was flinkere Hände und mehr Abgebrühtheit verlangt, als du jemals aufbringen kannst.« Er zwinkerte ihr zu, als wären sie Komplizen in einer lustigen Verschwörung.
Hastig sprang Éanna vom Stuhl auf, klemmte sich Schal und Mütze unter den Arm und nahm das Brot an sich. »Habt Dank für alles, Mr O’Brien. Gott segne Euch.«
»Ha!«, sagte er mit befremdlicher Fröhlichkeit. »Ich habe dir zu danken, dass du mir Gelegenheit gegeben hast, mir ein wenig die Langeweile zu vertreiben.« Und als wollte er dem noch die Krone aufsetzen, fügte er selbstironisch hinzu: »Wollen wir nicht alle Heilige werden?« Er zwinkerte ihr ein letztes Mal zu, nahm dann wieder die Zeitung zur Hand, schlug sie auf und verschwand hinter den hohen Seiten.
Éanna sah zu, dass sie schnell aus der Taverne kam. Kaum stand sie draußen auf der Straße, als ihr all das, was sie in der letzten knappen Stunde erlebt und aus dem Mund dieses Patrick O’Brien gehört hatte, unwirklich vorkam. Aber der Brotlaib, den sie fest an ihre Brust drückte, war Beweis, dass es tatsächlich so geschehen war, wie unglaublich es ihr auch erscheinen mochte.
Sie grübelte noch lange darüber nach, was für ein merkwürdiger Mensch ihr Retter und Wohltäter doch war. Wie unbekümmert und leichtfertig er über alles hinweggegangen war, um sich »ein wenig die Langeweile zu vertreiben«! Er hatte mit ihr gespielt – wie ein verzogener Bengel, dem langweilig war. Sie konnte es nicht fassen.
Aber was er auch für Beweggründe gehabt hatte, sie musste dankbar sein, wie glimpflich die Sache für sie ausgegangen war. Und insgeheim war sie auch ein bisschen stolz, dass sie sich in der Taverne nicht zu einer spitzen Erwiderung hatte hinreißen lassen. Catherine hatte sie früher oft ermahnt, ihre Zunge ja im Zaum zu halten. Und Éanna wusste, dass nicht mehr viel gefehlt hatte, und sie hätte Patrick O’Briens Wohlwollen mit ein paar Sätzen aufs Spiel gesetzt.
Trotzdem, eine Sache konnte und wollte sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie beschloss, sich unten am Fluss den Schmutz aus Gesicht und Haaren zu waschen und diese so sorgfältig zu kämmen, wie sich dem verfilzten Gestrüpp auf ihrem Kopf mit dem Kamm nur beikommen ließ!
Neuntes Kapitel
Éanna machte sich auf den Weg zum Fluss. So unverblümt auf ihr verdrecktes, abstoßendes Äußere hingewiesen worden zu sein, hatte sie tief getroffen, auch wenn sie es nicht recht zugeben konnte.
Dieser feine Schnösel hatte gut reden! Sollte er doch tagelang im strömenden Regen Körbe voller Steine aus dem Steinbruch schleppen und sich dann abends völlig erschöpft in ein Scalpeen verkriechen! Dann wollte sie mal sehen, wie seine feinen Kleider und sein ordentlich gekämmtes Haar aussahen!
Was seine großherzigen Wohltaten im Schwarzen Ochsen betraf, so hegte sie nicht den geringsten Zweifel, dass er den Verlust von den wenigen Münzen, die er dem Wirt für ihr Essen und das Brot zahlen musste, später in seiner prallen Geldbörse nicht einmal bemerken würde. Immer schneller lief sie durch die Gassen in Richtung Fluss. Sie vermied die breiten, bevölkerten Straßen mit all den jammervollen Gestalten. Das Brot hielt sie dabei unter ihrem Umhang fest an ihre Brust gepresst und vor fremden Augen verborgen.
Am Fluss suchte sie sich eine abgelegene Stelle, wo niemand Zeuge ihrer kläglichen Wäsche werden konnte. Das Brot, das ihr gute zwei, vielleicht sogar drei Tage ohne allzu quälenden Hunger versprach, legte sie auf
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