Wildes Herz
Damit schlug er einem der jüngeren Kameraden, der wild an Éannas Umhang zerrte, hart auf die Hand. »Aufhören, habe ich gesagt. Es reicht!«
Der rothaarige Paddy stand breitbeinig daneben. Er hatte sich das Brot unter den Arm geklemmt. »Nun reiß mal nicht das Maul so weit auf, Brendan Flynn!«, blaffte er. »Wenn hier einer sagt, was gemacht wird, dann bin ich das, klar?«
»Das kann sich aber ändern, wenn du es darauf anlegst, Paddy«, gab Brendan Flynn drohend zurück. Er sah nicht weniger kräftig aus als der Anführer der Gruppe.
»Wäre ja wohl noch schöner, wenn wir Zoff wegen so einem Weiberrock bekämen.« Paddy machte eine geringschätzige Kopfbewegung zu Éanna hin. Sie kauerte im Gras und hielt ihren Umhang umklammert, während sie mit den Tränen kämpfte. »Also lassen wir den Scheiß, Brendan. Wir hauen ab.«
Die Gruppe zog mit ihrer Beute ab, und Éannas tränenblinder Blick folgte ihnen. Doch statt sich davonzumachen, blieben die Jungen ein Stück weit entfernt in Höhe der Ufermauer stehen. Die beiden älteren, Paddy und Brendan, schienen immer noch zu streiten. Dann sah Éanna, dass der brutale Rotschopf ärgerlich ein Stück Brot abbrach und es dem anderen in die Hand drückte.
Éanna ballte die Fäuste – bereit, sich abermals zur Wehr zu setzen. Doch wenig später ließ sie die Hände erstaunt sinken. Denn Brendan schlitterte die Böschung herab, kam vor ihr zu stehen und hielt ihr den Kanten Brot hin. »Mehr als das Stück konnte ich ihnen nicht abringen«, sagte er und mied dabei ihren Blick. »Tut mir leid. Wir haben auch Hunger. Denk nicht zu schlecht von uns.«
Mit Tränen in den Augen funkelte Éanna ihn an. »Beten werde ich deshalb bestimmt nicht für dich!«
Brendan Flynn zuckte die Achseln. »Ist auch nicht nötig. Seit wann helfen uns Iren noch Gebete?«, erwiderte er. »Pass nächstens besser auf, wenn du einen Haufen Brot ergattert hast. Dann passiert dir so was auch nicht.«
»Fahr zur Hölle, Brendan Flynn!«
Er lachte trocken auf und nickte. »Keine Sorge, bin auf dem besten Weg dorthin. Vielleicht sind wir alle ja schon längst dort angekommen, weil der Teufel Irland zu seiner Hölle gemacht hat«, sagte er sarkastisch und kehrte zu seinen Kameraden zurück.
Éanna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann hob sie das Stück Brot auf, klopfte den Sand von der Kruste und steckte es in die Tasche ihres Mantels. Holzteller, Löffel und die Dose zum Feuermachen hatten die Jungen ihr gelassen. Und auch das Messer war noch da – es hatte sich im Stoff des Umhangs verhakt und war dort offensichtlich stecken geblieben.
So schlimm es war, dass sie den Brotlaib bis auf dieses kleine Endstück verloren hatte – sie tröstete sich damit, dass es noch viel übler hätte ausgehen können.
Außerdem hatte sie nun wahrlich keinen Anlass, sich auf das hohe Ross zu setzen, fuhr es ihr durch den Kopf. Denn sie, Éanna Sullivan, war selbst zur Diebin geworden. Und vielleicht war es nur gerecht, dass sie von anderen bestohlen worden war.
Zehntes Kapitel
Éanna verließ die Stadt im Osten, und es war das Andenken an ihre Mutter, dass sie abermals die Richtung einschlug, in der Dublin lag – viele, viele Tagesmärsche entfernt.
Sie mied die Landstraße, die von Ballinasloe hoch zum Shannon River und nach Athlone führte. Zu viele andere Hungerleider bevölkerten die Hauptstraße. In diesen stummen apathischen Todesmarsch wollte Éanna sich nicht länger einreihen. Sie fürchtete, in dieser Menge von der völligen Hoffnungslosigkeit und stumpfen Gleichgültigkeit dem Tod gegenüber angesteckt zu werden und selbst jeglichen Überlebenswillen zu verlieren.
Denn der Überlebenswille war wieder da – stärker als je zuvor. Éanna wusste nicht genau, wann sie sich dafür entschieden hatte, den Kampf von Neuem aufzunehmen. War es die Begegnung mit der Straßenbande gewesen? Waren es die Graupensuppe und das Glas Milch? Oder war es ihr Zorn über die abfälligen Bemerkungen von Patrick O’Brien oder den Diebstahl des Brotes?
Vergiss nicht, dass du eine Sullivan bist, ging es ihr wieder durch den Kopf, während sie sich ihren Weg über schmale Feld- und Wiesenpfade suchte. Ihre Mutter hatte gut daran getan, ihr das mit auf den Weg zu geben. Éanna würde nicht aufgeben. Noch nicht.
So wanderte sie durch die hügelige Landschaft, die sie an früher erinnerte. Über die Äcker mit ihren grauen, niedrigen Steinmauern führte sie der Weg, vorbei an den brandgeschwärzten Ruinen
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