Wildes Herz
ein verschmiertes und völlig zerknittertes Zeitungsblatt aus seiner Manteltasche. »Offenbar ist die britische Krone es leid geworden, uns mit ihren vorzüglichen Suppenküchen zu beglücken und so ungeheuer viel Geld für ihre ungeliebten irischen Untertanen auszugeben. Und damit wir ihnen nicht mehr länger auf der Tasche liegen, ist das Parlament in London auf die fabelhafte Idee gekommen, die Hungersnot in unserem Land einfach abzuschaffen – und zwar per Dekret.«
»Das kann nicht sein!«, stieß Éanna ungläubig hervor.
»Es ist aber so! Du kannst es selber nachlesen, wenn du mir nicht glaubst. Die feinen Herrn Minister haben nämlich nur mal eben einen kurzen Blick auf die Ernteschätzungen der Großgrundbesitzer geworfen, und demnach hat Irland im Sommer und Herbst eine Rekordernte an Getreide eingefahren. Und mit dem Vieh steht es auch zum Allerbesten!«
»Aber das bleibt doch nicht im Land und wird schon gar nicht an die Hungernden ausgegeben, sondern fast alles nach England und anderswohin verschifft!«, protestierte Éanna.
»Zst, zst, zst!«, machte Brendan und schüttelte dabei den Kopf, als hätte sie da etwas sehr Einfältiges von sich gegeben. »Aber wer wird denn angesichts der wunderbaren Nachrichten so kleinlich sein und sich mit solch einer läppischen Nebensache aufhalten? Die britische Regierung ist jedenfalls nicht so kurzsichtig gewesen wie du dummes Irenmädchen. Für sie stand eine Rekordernte auf dem Papier, und das hat ihnen gereicht, um das Ende der Hungersnot festzustellen.«
»Diese Schweine im feinen Tuch!«, zischte Éanna. »Was muss bloß in ihren Köpfen vor sich gehen, dass sie das Elend überhaupt nicht kümmert?« Sie warf den Kopf zurück. »Mein Vater hat immer für die Landsleute gesprochen, die zu den Waffen gegriffen und versucht haben, eine Rebellion zu entfachen und Irland von den Engländern zu befreien«, sagte sie. »Früher konnte ich ihn nicht verstehen, aber jetzt würde ich nicht eine Sekunde zögern und selber eine Waffe in die Hand nehmen, wenn es zu einem Aufstand käme!«
»Ja, ein freies Irland, in dem die britische Krone nichts mehr zu sagen hat und uns nicht mehr demütigen und ausbeuten kann, das wäre ein Ziel, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde!«, pflichtete Brendan ihr bei. »Und irgendwann ist es auch so weit. Eines Tages werden wir sie aus dem Land jagen!«
Doch sie wussten beide, dass dieser Tag wohl noch in weiter Ferne lag und der Traum eines freien, unabhängigen Irlands nichts weiter als ebendas war: ein Traum.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Brendan nach einer Weile vorsichtig.
Éanna zuckte die Achseln. »Irgendwie den Winter überleben und im Frühjahr auf Arbeit hoffen, was sonst?«
»Was hältst du davon, wenn wir zusammenbleiben und gemeinsam auf Beutezug gehen?«, schlug er vor. »Hier im Osten geht es vielen Leuten noch richtig gut, und zu zweit lässt sich manches einfacher organisieren, als wenn man es allein versuchen muss.«
Éanna zögerte. Sie dachte an den gestrigen Abend und das, was er gesagt hatte.
Gib mir eine Chance. Und dann zeig ich dir, dass wir Iren vielleicht doch etwas entscheiden können.
Und hatte er nicht recht behalten? Hatte sie ihm nicht ihren wohlgefüllten Magen zu verdanken – das erste Mal seit Wochen? Und auch wenn sie gestern noch bereit gewesen war, mit einem Messer auf ihn loszugehen, hatte der heutige Tag für sie etwas verändert. Sie wusste nicht, wann sie ihr Misstrauen ihm gegenüber verloren hatte, aber irgendetwas tief in ihr drängte danach, sich ihm anzuschließen.
»Nun? Sag schon Ja!«, drängte er.
Sie nickte. »Wir versuchen es«, sagte sie schlicht.
Mit einem breiten Grinsen der Erleichterung streckte er ihr seine Hand hin. »Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst, Éanna Sullivan!«
Sie ergriff seine dargebotene Hand und erwiderte das Grinsen. »Auf die nächste Hammelkeule oder was immer wir ergattern können, Brendan Flynn!«
Achtzehntes Kapitel
Bis in die Mitte des Dezembers hinein machte Éanna mit Brendan die Gegend um Mountmellick mit ihren kleinen Beutezüge unsicher. Dabei achteten sie darauf, nach jedem gelungenen Raub von Lebensmitteln sofort die Himmelsrichtung zu wechseln. Hatten sie an einem Tag im Westen der Stadt zugeschlagen, beeilten sie sich, in das Umland östlich von Mountmellick zu kommen. Waren sie zwei Tage später im Süden erfolgreich gewesen, kundschafteten sie die Bewohner der Häuser im Norden aus.
Sie wussten, dass mit
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