Wildes Herz
dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es ohne ihn gewesen war.
Seit den schrecklichen Wochen zwischen Athlone und Mountmellick wusste Éanna, was Einsamkeit wirklich bedeutete. Und sie wollte sie nicht noch einmal erleben.
In den ersten Tagen ihrer gemeinsamen Wanderschaft hatten sie so gut wie nichts von ihren persönlichen Gefühlen und dem Schicksal ihrer Familien preisgegeben. Nun jedoch begannen sie, einander immer mehr zu vertrauen. Und mit diesem Vertrauen kam die Bereitschaft, dem anderen auch das zu erzählen, was sie nur mit großem innerem Schmerz auszusprechen vermochten.
Éanna erzählte ihm, was Granny Kate ihr in jener Sommernacht prophezeit und wie sie nacheinander ihre Geschwister, den Vater und zuletzt die Mutter verloren hatte. Sie erzählte ihm auch von dem Versprechen, das sie Catherine auf dem Sterbebett gegeben hatte.
»Kurz bevor sie ihre Augen schloss, musste ich ihr mein Wort geben, dass ich in Dublin nach Verwandten von mir suchen würde«, sagte sie und schluckte schwer, als sie sich an jene Nacht in dem Scalpeen erinnerte. »Ich kenne diese McCarthys gar nicht – meine Mutter selbst hatte sie über zwanzig Jahre lang nicht gesehen. Aber falls es mir gelingen sollte, mein Versprechen irgendwann zu halten und nach Dublin zu gehen – wo könnte ich in einer so großen Stadt anfangen zu suchen – noch dazu nach Leuten mit diesem Allerweltsnamen?«
Brendan Flynn nickte. Sein mitfühlender Blick ruhte auf ihr, und sie schwiegen einen Moment.
»Es ist noch gar nicht so lange her, da habe ich auch davon geträumt, in die Stadt zu gehen«, sagte er sehnsüchtig. »Mein Vater hat mir von Dublin erzählt. Er war für kurze Zeit dort, Jahre bevor er meine Mutter geheiratet hat. Er hat oft von der St.-Patricks-Kathedrale gesprochen und sie mir in den glühendsten Farben beschrieben. Damals ist er jeden Tag dort gewesen und hat Kerzen für die Verstorbenen angezündet.« Er schwieg einen Moment lang und seufzte dann tief. »Aber Dublin können wir uns aus dem Kopf schlagen. Ich habe von einigen gehört, die es versucht haben. Die Stadt ist überfüllt von Bettlern und Hungergestalten unserer Sorte. Da sind wir hier noch besser dran.«
Éanna nickte niedergeschlagen. Ähnliche Gedanken waren ihr auch schon durch den Kopf gegangen. »Was ist mit deinem Vater geschehen?«, fragte sie schließlich.
Und Brendan begann zu erzählen.
Éanna erfuhr, dass er aus einem Dorf südlich von Loughrea stammte, was gar nicht allzu weit von ihrer Heimat lag. Seine Familie und all die anderen Kleinpächter waren wie die Sullivans Opfer einer Massenräumung geworden, wie sie von so vielen gewissenlosen Grundherrn im Land angeordnet worden war.
»Aber mein Vater hat sich nicht damit abfinden wollen und dachte gar nicht daran, tatenlos zusehen, wie sie uns das Dach vom Kopf nahmen«, sagte Brendan bedrückt. »Er hatte schon immer ein sehr hitziges Temperament, und das ging an jenem Morgen mit ihm durch, als der Verwalter mit seinen Schergen auf unserem Hof auftauchte. Er hat sich den Männern in den Weg gestellt und versucht, sie an der Zerstörung unserer Kate zu hindern. Daraus ist dann sehr schnell eine wüste Prügelei geworden.«
»Er hat sich gegen die Männer des Grundherrn zur Wehr gesetzt?«, fragte Éanna entsetzt. »Aber er muss doch gewusst haben, wie sinnlos so etwas ist!«
Brendan verzog das Gesicht zu einer bitteren Miene. »Natürlich war es sinnlos. Und er hat es auch gewusst. Dass er gegen die Soldaten nicht die geringste Chance gehabt hatte, war schon auf den ersten Blick klar gewesen. Aber das hat ihn nicht gekümmert. Er wollte einfach nicht ohne Widerstand und wie ein geprügelter Hund das Feld räumen. Aber genau das ist dann der Fall gewesen. Denn die Männer haben brutal mit ihren Knüppeln auf ihn eingeschlagen.«
»War es sehr schlimm?«, fragte sie leise.
Brendan nickte. »Sie haben ihm eine Kniescheibe zertrümmert und einen Arm gebrochen. Er hat es danach dann auch nicht mehr lange gemacht. Und meine Mutter, die da schon im siebten Monat war, ist kurze Zeit später bei der Geburt des Kindes gestorben. Das Baby ist keine Woche alt geworden.« Er machte eine kurze Pause und holte tief Luft. Es fiel ihm sichtlich schwer, davon zu sprechen. »Ich habe wirklich alles versucht, meine beiden kleinen Geschwister irgendwie durchzubringen. Aber es war Winter, gerade Anfang Januar, und sie sind krank geworden. Gegen das Fieber, das sie bekommen haben, konnte ich nichts
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