Wildes Herz
jedem Tag die Gefahr wuchs, erwischt zu werden. Man würde sich gegenseitig von den dreisten Diebstählen erzählen, einander warnen und ihnen womöglich mithilfe der Polizei oder wachsamen Bediensteten das Handwerk legen wollen.
Genau das trat auch ein. Als sie an zwei Tagen hintereinander nur um Haaresbreite ihrer Ergreifung entkamen und am folgenden Mittag plötzlich vor der Suppenküche zwei Konstabler auftauchten und jeden in der Menge musterten, da war ihnen klar, dass man jetzt gezielt nach ihnen suchte. Und das bedeutete, dass sie aus Mountmellick und dem Umland verschwinden mussten.
Schleunigst setzten sie sich nach Süden ab und trafen gerade noch rechtzeitig in der Stadt Mountrath ein, um Zeuge zu werden, wie dort eine aufgebrachte Menge halb verhungerter Männer, Frauen und Kinder unter wildem Geschrei über zwei mit Mais beladene Fuhrwerke herfiel.
Die Soldaten, die den Transport begleiteten und schützen sollten, schrien Warnungen und fuchtelten, am Rande einer Panik, mit ihren Bayonetten herum. Aber sie wagten es doch nicht, in die Menge zu schießen. Sie waren nur zu sechst, während mittlerweile mindestens hundert Elendsgestalten einen Ring um sie und die beiden Wagen gebildet hatten. Viele der Frauen und Männer hatten sich mit Piken, Mistgabeln, Knüppeln, Torfspaten, scharfkantigen Steinen und angespitzten Ästen bewaffnet. Und sie zeigten sich entschlossen, davon auch Gebrauch zu machen, falls die Rotröcke den Weg nicht endlich freigaben.
Die Eskorte begriff, dass sie auf verlorenem Posten stand, und sie beeilte sich, dem wütenden Mob zu entkommen und mit den beiden Kutschern das Weite zu suchen.
Éanna, die mit Brendan in der hinteren Reihe gestanden hatte, wurde von dem wilden Chaos aus schreienden Männern und Frauen, die die Fuhrwerke stürmten, mitgerissen. Doch es war nicht das Jubeln von triumphierenden Siegern, sondern das schrille Geschrei von ausgehungerten Menschen, die um ihren Anteil an der Beute fürchten. Die Säcke wurden von den Wagen gezerrt und von Dutzenden gieriger Hände aufgerissen.
»Versuch, ein paar Handvoll zu erwischen!«, hörte sie Brendan noch rufen, dann verschwand er in dem rücksichtslosen Gedränge.
Der Mais ergoss sich auf die Straße. Jeder dachte nur an sich und wollte möglichst viel an sich raffen. In dem wüsten rücksichtslosen Gedränge, das ein Kampf jeder gegen jeden war, wurde so manchem der zusammengeraffte Mais wieder aus den Händen oder der Mantelkuhle geschlagen, in die er geschaufelt worden war. Und viele stopften sich in ihrem quälenden Hunger die Maiskörner gleich roh in den Mund und würgten sie hinunter. Sie hörten nicht auf die eindringliche Warnung der wenigen Vernünftigen, die ihnen zuriefen, dass sie davon Krämpfe und Durchfall bekommen würden.
Éanna blieb der Atem weg, als ein Mann ihr den Ellenbogen in die Seite rammte. Sie keuchte auf.
Sie hatte längst aufgegeben, an den Mais kommen zu wollen. Jetzt ging es nur noch darum, nicht von der Menge niedergetrampelt zu werden.
Was hatte der Hunger bloß aus den Menschen gemacht, fragte sie sich, während sie sich einen Weg zurückbahnte.
Dass sie und so unsäglich viele andere schon qualvoll lange wie die Tiere lebten, daran hatte sie sich fast gewöhnt. Neu und verstörend war die Erkenntnis, dass sie nun aber auch begannen, wie die Tiere ohne jedes Gewissen gegenseitig übereinander herzufallen!
Am Rand des Marktplatzes traf sie auf Brendan, der einige Hände voll Körner aus dem Dreck der Straße hatte aufsammeln können.
Ein Gutteil davon verloren sie später wieder, als sie den Mais in einem alten Blechtopf außerhalb der Stadt kochten. Éanna kannte das Getreide nur vom Hörensagen – amerikanische Hilfsorganisationen brachten es nach Irland –, und als sie es kochte, sprang sie erschrocken vom Feuer zurück.
»Was passiert damit?«, rief auch Brendan entsetzt, als die Körner plötzlich zu explodieren schienen und wie Geschosse nach allen Seiten aus dem Topf sprangen.
Éanna griff zu einem ihrer Holzteller und deckte damit den Topf ab, doch da war schon ein gutes Drittel der Körner aus ihm entwichen. Bis der Rest dann endlich weich gekocht war, dauerte es ewig.
Hinterher lagen sie zusammen am Feuer, und Éanna musste daran denken, dass es noch gar nicht so lange her war, dass sie Brendan die Pest und die Krätze an den Hals gewünscht und ihn für einen skrupellosen Strauchdieb gehalten hatte. Doch nun hatten sie bereits schon so viel miteinander erlebt,
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