Wildes Herz
streng geschnittenes, schmuckloses Kleid aus grau-schwarz gestreiftem Tuch und eine Haube aus demselben Stoff. Das unter dem Kinn zur Schleife gebundene Band der Haube schnitt tief in ihr Doppelkinn. Der dünnlippige Mund in dem runden Gesicht war zu einer harten Linie zusammengepresst, und in den kleinen Augen stand ein zornig funkelnder Blick.
»Noch zwei, Dudley?«, rief sie verärgert und stemmte die Arme in die Hüfte. »Hatten wir nicht ausgemacht, dass wir keine neuen Hungerleider mehr aufnehmen können?«
»Reg dich nicht schon wieder so auf, Agnes«, wehrte der Anstaltsleiter den Vorwurf seiner Frau verdrossen ab. »Ein paar musste ich reinlassen. Das gehört sich nun mal so. Ein bisschen Hoffnung muss man diesen armen Kreaturen noch lassen.«
»Himmelherrgott, hast du denn vergessen, dass wir mittlerweile schon tausendachthundert Seelen aufgenommen haben? Clifton Workhouse ist nur für höchstens tausend Insassen gebaut worden«, hielt sie ihm vor. »Wir sind längst überbelegt!«
»Und wennschon! Finde dich damit ab, dass es jetzt eben sechs Insassen mehr sind, Weib«, sagte er schroff. »Morgen früh werden wieder einige Bettstellen leer werden! So, und jetzt sieh zu, dass deine Frauen dieses Mädchen da gründlich von Dreck und Ungeziefer säubern und dann nach oben in die Fieberstation bringen.«
Agnes Boyle rang die Hände. »Eine Fieberkranke hast du hereingelassen? Auch das noch! Als hätten wir nicht schon genug von ihnen!«
Der Anstaltsleiter achtete nicht auf sie, sondern gab Brendan mit seinem Prügel einen Stoß in die Seite. »Komm mit!«, befahl er mürrisch. »Ich bring dich hinüber ins Wohnhaus.«
Brendan zögerte. »Und was ist mit meiner Schwester?«
Dudley Boyle versetzte ihm sogleich einen zweiten, diesmal jedoch merklich kräftigeren Stoß. »Hast du es auf den Ohren, Bursche«, herrschte er ihn an. »Ich habe gerade ›Komm mit!‹ gesagt! Und wenn ich oder einer meiner Aufseher dir einen Befehl geben, hast du dem sofort Folge zu leisten! Merk dir das gefälligst! Und nun beweg dich endlich, sonst werde ich wirklich ungemütlich!« Damit packte er ihn am Mantelkragen und stieß ihn vor sich her.
Brendan drehte sich nach Éanna um. Doch der Anstaltsleiter verstellte ihm mit seiner massigen Gestalt den Blick. Und so trennte man sie unerwartet schnell und abrupt, dass ihnen nicht einmal für ein Wort des Abschieds und des Zuspruchs Zeit blieb.
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Éanna bekam kaum noch mit, wie sie in einen feuchten, muffigen Waschraum geführt wurde, wo ihr die Kleidung abgestreift wurde.
Grobe Hände beförderten sie splitternackt und ohne Mitgefühl für ihren elenden Zustand in einen großen Holzzuber. Mehrere Eimer lauwarmen Seifenwassers, das aus einem benachbarten Zuber kam, ergossen sich über sie, bevor sie erbarmungslos abgeschrubbt wurde. Danach bekam sie grobe Anstaltskleidung verpasst, die jeder Insasse eines solchen Armenhauses tragen musste. Der Stoff des abgetragenen Kleides bestand aus kratziger schiefergrauer Wolle und besaß ein blassschwarzes Karomuster. Die Kleidung von Sträflingen in einem Gefängnis sah nicht viel anders aus.
Schließlich band man ihr ein doppeltes Stück Schnur um das rechte Handgelenk, an dem ein kleines Pappschild mit ihrem Namen befestigt war.
»Fertig«, sagte eine der Aufseherinnen, die Éanna gewaschen hatte. »Ab mit dir nach oben.«
Éanna versuchte, der Aufforderung Folge zu leisten, doch kaum hatte sie einen Schritt gemacht, gaben ihre Knie nach. Stumm stürzte sie zu Boden.
»Himmel, was glüht die vor Fieber!«, hörte Éanna eine zweite Stimme wie durch eine dichte Schicht Nebel. »Beeilen wir uns, dass wir sie auf die Beine und nach oben in die Fieberstation bringen, bevor sie uns hier noch völlig zusammenklappt, Martha!«
»Ich sage dir, die macht es nicht lange«, erwiderte die andere verdrossen. »Spätestens übermorgen steht ihr Name unten auf der Schiefertafel!«
Bis zu diesem Moment hatte Éanna noch halbwegs bewusst ihre Umgebung wahrgenommen und das, was mit ihr geschah. Doch nun zerbrach diese bewusste Wahrnehmung wie ein Glasfenster, das in tausend unterschiedlich große Splitter zersprang. Ihr war, als würde sie ein schwarzer Strudel erfassen und sie in eine Tiefe ziehen, aus es kein Entkommen gab.
Dass die beiden Frauen sie nach oben unter das Dach trugen und in dem völlig überfüllten Schlafsaal in ein kistenartiges, gerade mal schulterbreites Bett legten, bekam sie nicht mehr mit.
Und
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