Wildes Herz
ich ja zur Stelle«, sagte Emily und fuhr hastig fort: »Dermod mag ein rechtes Raubein und Schandmaul sein, was man in seinem Beruf vermutlich sogar sein muss, wenn man dabei nicht vor die Hunde gehen will. Aber er hat sein Herz auf dem rechten Fleck. Ich werde versuchen, über ihn mit deinem Brendan Kontakt aufzunehmen.«
Éanna warf ihr einen dankbaren Blick zu.
»So, und jetzt brenne ich darauf, mehr von dem sagenhaften Brendan Flynn zu erfahren, der dir so am Herzen liegt und von dem du annimmst, dass er mittlerweile schon ganz krank vor Sorge um dich ist«, forderte Emily sie auf und lächelte sie an.
Mit leuchtenden Augen berichtete Éanna ihrer Freundin, wie sie Brendan kennengelernt und was sie beide in den letzten Wochen ihrer ziellosen Wanderung zusammen erlebt und erlitten hatten.
»Brendan hat mich stundenlang im Leiterwagen durch den Schnee gezogen. Wenn er mich nicht nach Clifton Workhouse geschleppt und für meine Aufnahme gesorgt hätte, wäre ich wohl schon längst tot, und wir hätten uns nie wiedergesehen«, endete sie.
Emily hatte ihr aufmerksam zugehört. »Na, dieser Brendan Flynn scheint ja nicht nur ein anständiger Kerl zu sein, sondern sich auch eine Menge aus dir zu machen«, neckte sie.
Éanna nickte. »Ja, das tut er«, sagte sie ernst. »Ich glaube, das tut er wirklich.«
»Und? Was bedeutet er dir?«, fragte Emily augenzwinkernd. »Nun sag schon! Hast du dich richtig in ihn verliebt?«
Éanna spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie war noch nie in ihrem Leben verliebt gewesen. Und darüber zu reden, fiel ihr fast so schwer, wie endlich offen vor sich selbst einzugestehen, dass genau das eingetreten war.
»Ja, er bedeutet mir sehr viel«, gestand sie leise. »Was ich für ihn empfinde, das … das habe ich bisher noch für keinen anderen Menschen empfunden. Ich meine … Sie stockte kurz und suchte nach den Worten, die richtig zum Ausdruck brachten, was sie fühlte. »Ich habe meine Mutter und meinen Vater sehr geliebt und auch Granny Kate und meine Geschwister. Aber das war etwas ganz anderes als dieses . . . dieses verstörende und aufwühlende und zugleich doch so wunderbare Gefühl, das Brendan in mir geweckt hat.«
»Na, wenn das nicht Liebe ist, will ich nicht länger Emily Farrell heißen!« Ihre Freundin seufzte wehmütig. »Ach, du bist wirklich zu beneiden, Éanna. Da weiß man doch wenigstens, für wen es sich zu kämpfen und zu überleben lohnt. Bestimmt habt ihr auch schon Pläne für die Zukunft geschmiedet!«
Éanna zögerte kurz und sagte dann etwas verlegen: »Also, wenn ich ganz ehrlich sein soll, so richtig konkret haben wir noch nicht darüber gesprochen, wie es mit uns beiden weitergehen soll, wenn wir hier heraus sind.«
»Du meinst, Brendan hat mit dir noch nicht übers Heiraten gesprochen?«
»Mein Gott, wir haben uns noch nicht einmal geküsst, Emily.« Éanna musste lachen, auch wenn es noch in der Brust schmerzte. »Geschweige denn auch nur ans Heiraten gedacht ! Glaub mir, wir hatten mehr als genug damit zu tun, nicht zu verhungern oder zu erfrieren!«
Emily drückte voller Zuneigung ihre Hand. »Keine Sorge, wenn ihr erst wieder zusammen seid, wird der erste Kuss nicht lange auf sich warten lassen – und das Heiraten ganz bestimmt auch nicht!«
»Wir waren uns einig, dass wir nach Dublin gehen und uns dort Arbeit suchen wollen.«
Emily schaute sie skeptisch an. »Habt ihr im Ernst geglaubt, dass ihr das schafft?«, fragte sie zweifelnd. Sie seufzte. »Nun ja, früher hatte ich auch noch solche Träume. Erinnerst du dich, wie ich damals behauptet habe, dass ich einmal nach Amerika auswandern werde?« Emilys Gesicht bekam einen bitteren Ausdruck. »Was war ich doch für ein Dummkopf!«
Éanna sah sie an und schüttelte den Kopf.
Sie dachte daran zurück, wie sie mit Brendan gescherzt hatte, kurz bevor sie ins Eis eingebrochen war.
» Amerika. Wir kommen!«, hatte sie ihm zugerufen.
»Du bist kein Dummkopf, Emily«, sagte sie leise. »Träume darf man haben. Vielleicht muss man sie sogar haben.«
Für einen langen Moment schwiegen sie. Emily saß auf der Kante des Bettkastens und streichelte gedankenabwesend Éannas Hand.
Dann ging plötzlich ein Ruck durch sie. Sie atmete tief durch und ließ Éannas Hand sanft aus der ihren gleiten. »Träume sind gut und schön. Aber im Moment sollten wir uns lieber darum kümmern, dass sich dein Brendan nicht länger vor Sorge um deinen Zustand verzehrt!« Sie zwinkerte Éanna noch einmal
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