Wildes Herz
nicht entgangen, wie wild entschlossen sich da jemand seinen Weg durch die Menge zu ihm nach vorn gebahnt hatte. Er musterte Brendan mit einem spöttischen Lächeln. »Da sieht man mal wieder, zu was zähes irisches Fleisch fähig ist! Du hast dir einen Platz bei mir wirklich redlich verdient«, sagte er anerkennend, setzte dann jedoch hart hinzu: »Aber das Mädchen da an deiner Seite, das kaum noch stehen kann, lässt du besser draußen, Bursche. Ich weiß, wann ich eine Fieberkranke vor mir habe. Und von der Sorte beherberge ich schon mehr als genug unter meinem Dach!«
Éanna zeigte keinerlei Anzeichen von innerer Regung. Völlig unbeteiligt starrte sie in den dreckigen Schneematsch zu ihren Füßen, als hätten seine Worte gar nicht ihr gegolten. Sie empfand weder Erleichterung noch Bedauern. Und als Brendan ihr verstohlen in die Seite kniff, reagierte sie nur noch instinktiv.
Sie hob den Kopf, riss die Augen auf und versuchte aus eigener Kraft zu stehen. Aber warum sie sich überhaupt dazu zwang, das wusste sie in diesem Moment schon gar nicht mehr.
»Éanna ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist, Mr Boyle«, beteuerte Brendan im selben Augenblick. »Ich kann doch meine Schwester nicht hier allein zurücklassen, Herr!«
Dudley Boyle zog die struppigen Augenbrauen hoch und bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. »Du willst ihr Bruder sein? Ihr seht mir aber nicht wie Geschwister aus!«
»Wir haben dieselbe Mutter, aber nicht den gleichen Vater«, log Brendan geistesgegenwärtig.
»So, eine Mutter, aber zwei Väter! Was du nicht sagst«, brummte der Anstaltsleiter. Unschlüssig nagte er an seiner Unterlippe, während er offensichtlich überlegte, wie er in diesem Fall entscheiden sollte.
»Und es ist auch bestimmt kein böses Fieber, das ihr zusetzt, sonst hätte ich mich schon längst bei ihr angesteckt!«, fügte Brendan hastig hinzu. Er spürte, dass es nicht viel bedurfte, um den Anstaltsleiter zu überzeugen. »Sie hat sich die letzten Tage nur erkältet und ist bestimmt schnell wieder auf den Beinen!«
Dudley Boyle sah ihm scharf in die Augen, als wollte er in seinen Gedanken lesen. Brendan hielt dem forschenden Blick stand, ohne auch nur einmal zu blinzeln.
Schließlich nickte Dudley Boyle knapp. »Also gut, ich will dir glauben. Du kannst sie mitbringen!« Er trat zur Seite und winkte sie durch das Tor. Dabei rief er über seine Schulter ins Innere des Pfortenhauses: »Foley, schreib die beiden Geschwister hier noch mit auf die Liste! So, und damit wären wir für heute vollzählig!« Der letzte, lautstark verkündete Satz galt zugleich auch all denjenigen vor dem Tor, die vergeblich darauf gehofft hatten, Einlass zu erhalten.
Seltsamerweise reagierte die abgewiesene Menge, fast an die hundert Frauen, Männer und Kinder, darauf weder mit lautem Protestgeschrei noch mit Flehen oder Klagen. Dudley Boyles harschen Worten folgte vielmehr ein jäh einsetzendes, erschreckendes Schweigen. Es war, als hätten die Menschen, von denen so manche die Nacht nicht überleben würden, von einem Moment auf den anderen nun auch noch die Kraft zum Klagen und Flehen verloren.
Ein eisiger Schauer überlief Brendan, als ihm bewusst wurde, dass beinahe auch Éanna und er zu den Ausgeschlossenen gehört hätten. Wenn er mit ihr den Unterstand am Wald oben im Seitental der Wicklow-Berge nur fünf Minuten später verlassen hätte, wäre ihr Schicksal besiegelt gewesen.
Schnell packte er Éanna unter der Achsel und schob sie an Dudley Boyle vorbei durch die Tür, die hinter ihm klirrend ins Schloss fiel.
In dem dahinter liegenden, kahlen Vorraum des Pförtnerhauses mussten sie sich in das große, gut drei Finger dicke und in Schweinsleder gebundene Wirtschaftsbuch eintragen lassen. Hinter jedem Namen stand das Datum der Aufnahme ins Arbeitshaus. Viele der Namen waren durchgestrichen. Sie trugen hinter dem ersten Datum noch ein zweites, nämlich das der Entlassung oder des Todes. Ein Kreuz hinter dem zweiten Datum wies darauf hin, dass diejenige Person im Clifton Workhouse gestorben war. Und Brendan sah schon auf den ersten Blick, dass sich fast hinter jedem ausgestrichenen Namen ein Datum mit einem Kreuz fand.
Der Anstaltsschreiber, der hinter einem alten Holztisch saß, tunkte seine Schreibfeder ins Tintenfass.
»Namen?«
»Brendan … Brendan und Éanna Sullivan.«
Im selben Moment tauchte im Durchgang hinter dem Schreiber eine Frau von matronenhafter, gedrungener Figur auf. Sie trug ein
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