Wildes Herz
mir das nicht an, Brendan! Alles, nur das nicht!«
»Éanna! Nimm doch Vernunft an! Ich mache es doch nur . . .«
Éanna ließ ihn nicht ausreden. »Kein Arbeitshaus, Brendan!«, stieß sie kurzatmig hervor. »Wenn ich dir auch nur das Geringste bedeute, wirst du mir so etwas nicht antun! Bei allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben: Bitte bring mich nicht in dieses Clifton Workhouse . Lieber will ich hier sterben, als mich den Betreibern eines entsetzlichen Armenhauses auf Gedeih und Verderben auszuliefern!«
»Sag so etwas nicht«, erwiderte er nun nicht weniger heftig. Dann griff er nach ihrer Hand, die sich in seinen Mantel gekrallt hatte, löste sie aus dem Stoff und drückte ihre Finger an seine Lippen. »Oh Éanna! Natürlich bedeutest du mir etwas. Du bedeutest mir so viel mehr, als ich aussprechen kann. Ich bin nun mal nicht gut mit Worten. Aber du bist mir das Teuerste in der Welt.« Er stockte und umfasste mit beiden Händen ihre Schultern. »Und gerade weil dem so ist, werde ich nicht zulassen, dass du hier in der Kälte stirbst! Aber genau das wird unweigerlich eintreten, wenn du nicht schnellstens an einen einigermaßen warmen und wettergeschützten Ort kommst, wo man weiß, wie deinem Fieber beizukommen ist.«
Éanna sah ihn stumm an, und Tränen liefen über ihre glühenden Wangen.
Brendan erwiderte ihren Blick, und sie wusste, dass es auch ihm das Herz brach, was er ihr antun musste.
Das Arbeitshaus war der letzte Ausweg für die Hungernden auf der Straße. Doch er war auch der schlimmste.
Jeder Ire, der das Tor zu einem Arbeitshaus durchschritt, gab seine persönliche Freiheit auf und unterwarf sich bedingungslos dem gefürchtet strengen Regiment der Anstaltsleitung. Die 130 Armenhäuser Irlands waren eine Kreuzung aus Militärkaserne und Zuchthaus. Es hieß, dass man im Gefängnis auch nicht viel mehr zu erdulden habe als in einem Arbeitshaus. Das sollte all diejenigen abschrecken, die nur auf ein schnelles Almosen aus waren. Schon in den Jahren vor der großen Hungersnot hatten die Arbeitshäuser in einem äußerst üblen Ruf gestanden und waren der Albtraum eines jeden mittellosen Iren gewesen. Doch nun sollten die Zustände in diesen kasernenähnlichen, hoffnungslos überfüllten Anstalten sogar noch um einiges schlimmer sein als vorher. Daher verhungerten viele lieber auf der Straße, als ihren Fuß in solch eine Anstalt zu setzen.
»Wir haben keine Wahl, Éanna«, flüsterte er. »Das weißt du. Und wir müssen jetzt sofort aufbrechen, damit wir noch vor Einbruch der Dunkelheit dort eintreffen. Sonst stehen wir vor verschlossenen Toren.«
Die Tränen liefen Éanna noch immer über das Gesicht, als Brendan sie mitsamt den kratzigen Pferdedecken, in die er sie gewickelt hatte, vom kalten Boden hochhob und so sanft, wie es ihm möglich war, in den Leiterwagen setzte.
»Du musst doch nicht weinen, Éanna. So schlimm wird es schon nicht werden«, versuchte er, sie zu trösten, und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Seine Stimme klang jedoch belegt – vor Sorge um sie und dem, was sie beide in Clifton Workhouse erwartete. »Es ist doch nur für ein paar Tage. Sowie du das Fieber überwunden hast und dich wieder besser fühlst, machen wir, dass wir aus der Anstalt verschwinden und nach Dublin kommen, wie wir es geplant haben. Das verspreche ich dir!« Damit packte er das Rundholz der Deichsel, klemmte sie sich unter die linke Achsel und zog Éanna im Karren durch den hohen Schnee hinter sich her.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Clifton Workhouse erhob sich etwa zwei Meilen außerhalb von Donard aus der eingeschneiten winterstarren Landschaft. Es war ein gewaltiger, Furcht einflößender Komplex aus dunkelgrauem Sandstein. Man hatte ihn inmitten ebenen Farmlandes und fern von anderen mehrstöckigen Gebäuden an der Landstraße von Baltinglass nach Donard errichtet. Die völlige Leere rund um das düstere Arbeitshaus trug mit dazu bei, dass sein Anblick noch bedrohlicher und unheilvoller wirkte, als es ohnehin schon der Fall gewesen wäre.
Dicke festungsartige Mauern von gut doppelter Manneshöhe umschlossen das Clifton Workhouse . Der Name Arbeits haus wurde der Anstalt jedoch nicht annähernd gerecht, handelte es sich in Wirklichkeit doch um eine weitläufige Anlage mit mehr als nur einem Haus. Innerhalb dieser Mauern gab es drei hintereinander liegende lang gestreckte Gebäudetrakte von kasernenähnlichem Aussehen. Der mittlere und mächtigste dieser drei Trakte diente als
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