Wildes Herz
der Leichenkammer zu schauen, geschweige denn sich diesem Ort auch nur auf ein Dutzend Schritte zu nähern. Das eine wie das andere brachte Unglück, wie es unter den Insassen hieß. Und auch Éanna wollte ihren Blick schnell wieder abwenden, als ihr mit einem Mal die erlösende Idee kam, wie die Flucht aus dem Arbeitshaus zu bewerkstelligen war.
Fast im selben Moment stieß Caitlin sie an. »Komm bloß weiter!«, raunte sie ihr fast erschrocken zu und schlug hastig das Kreuz über sich. »Schau da nicht hin. Du ziehst den Tod auf dich!«
Éanna fuhr zusammen. Ihr war gar nicht bewusst geworden, dass sie unwillkürlich auf dem Treppenabsatz stehen geblieben war. »Oh nein, das genaue Gegenteil ist der Fall«, flüsterte sie Caitlin aufgeregt zu und wäre am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen. »Die Leichenkammer ist nämlich unsere Tür in die Freiheit!«
»Was redest du denn da für einen Unsinn?« Caitlin sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und auch Emily warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Hast du vielleicht wieder Fieber?«
Éanna lachte sie beide an. »Weder ist es Unsinn, noch habe ich Fieber. Es könnte mir nicht besser gehen. Aber was mir gerade für eine Idee gekommen ist, das erkläre ich euch nachher in der Korbflechterei.«
Emily und Caitlin hatten sichtlich Mühe, sich im Speisesaal an das strikte Redeverbot zu halten. Sie brannten darauf, von Éanna zu erfahren, welcher Einfall ihr ausgerechnet beim Anblick der Leichenkammer gekommen war. Und auch Éanna konnte es kaum erwarten, mit ihren Freundinnen zu sprechen. Noch schneller als sonst schlangen sie das dünne Porridge hinunter und konnten gar nicht rasch genug in die Werkstatt kommen.
»Nun erzähl schon!«, forderte Emily sie auf, kaum dass sie mit ihren Körben auf ihren Bänken saßen. »Was ist dir da oben eingefallen, Éanna?«
»Bestimmt etwas völlig Verrücktes, was sich überhaupt nicht durchführen lässt«, sagte Caitlin skeptisch, doch ihre Augen funkelten neugierig.
»Was wisst ihr über die Leichenkammer und wie sie benutzt wird?«, fragte Éanna und sah von einer zur anderen.
Verblüfft erwiderten die beiden ihre Blicke. Dann zuckte Emily die Achseln und antwortete: »Das, was jedes Kind schon nach ein, zwei Tagen in der Anstalt darüber weiß.«
»Und das wäre?«, beharrte Éanna.
Caitlin verdrehte genervt die Augen. »Mein Gott, da bringt Dermod alle Toten hin. Alle zwei Tage lässt Boyle den Priester aus Donard kommen. Und der sagt dann ein paar fromme Segenssprüche, bevor Dermod die Leichen auf die Bretterrutsche unter der Luke der Kammer wuchtet und sie nach unten in die große Sammelgrube befördert.«
»Später dann wirft er ein paar Schaufeln Kalk und Sand hinterher. Und zwei, drei Tage später kommen dann auch schon die nächsten Toten über die Rutsche.« Caitlin runzelte die Stirn. »Was soll diese blöde Fragerei, Éanna? Du weißt doch selber ganz genau, was diejenigen erwartet, die Dermod in die Hände fallen.«
»Stimmt, das weiß jeder. Und jeder fürchtet sich auch zu Recht davor«, räumte Éanna ein. »Aber ist dir nicht aufgefallen, dass du mir gerade unseren Fluchtweg beschrieben hast?«
Caitlin starrte sie entsetzt an. »Was meinst du?«, fragte sie.
»Natürlich die Luke in der Kammer vor der Rutsche!«, half Éanna ihr auf die Sprünge. »Das ist die einzige Öffnung in diesem verfluchten Haus, durch die man direkt nach draußen ins Freie gelangen kann! Alle die anderen Fenster befinden sich doch in den Längsfronten und gehen zu den ummauerten Innenhöfen hinaus!«
Emily machte ein verblüfftes Gesicht. »Du hast recht, Éanna! Und die Tür zur Kammer hat weder ein Schloss, noch gibt es ein Gitter vor der Luke!«
Éanna nickte eifrig. »Genau das ist es, was mir vorhin aufgefallen ist!«
»Und wennschon«, sagte Caitlin mürrisch. »Das ist deshalb noch lange nicht das Tor zur Freiheit! Wenn du von der Rutsche in die Tiefe springst, brichst du dir mit Sicherheit die Knochen! Oder hast du vergessen, dass die Leichenkammer im zweiten Stockwerk liegt? Das ist von dort ein verflucht tiefer Sprung in die Grube!«
»Stimmt«, räumte Éanna ein, doch ihre Stimme klang nicht im Mindesten bedrückt.
Caitlin war noch nicht fertig. »Wenn du den Sprung mit heilen Knochen überstehst, wird es mit der Freiheit nichts werden – jedenfalls nicht für lange. Denn schau doch mal an dir runter! Was du da am Leib hast, ist geliehene Anstaltskleidung, mit der du überall wie ein
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