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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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entlaufener Zuchthaussträfling auffällst. Wenn du geschnappt wirst, sitzt du nicht nur bis zum Frühjahr hinter Anstaltsmauern fest, sondern für ein, zwei Jahre hinter Gefängnisgittern! Hast du das etwa vergessen?«
    »Nein, auch das stimmt«, pflichtete Éanna ihr erneut bei und strahlte sie an. »Aber was du vergessen zu haben scheinst, sind die vielen Jutesäcke, die dort in der Kammer aufgeschichtet liegen und auf die nächsten Toten warten. Einen Stoß, der mir bestimmt bis auf Schulterhöhe reicht, habe ich in der Kammer gesehen! Wenn man ein gutes Dutzend von ihnen sorgfältig miteinander verknotet, braucht man gar nicht zu springen, sondern kann ohne großes Risiko an einem Seil aus Jute nach unten klettern! Und wenn man dazu noch einige Säcke aufschneidet und sie mit ein paar Jutefäden zu einem weiten Umhang zusammenflickt, dann sieht auch keiner, dass man darunter Arbeitshauskleidung trägt.« Sie machte eine kurze dramatische Pause, bevor sie triumphierend fragte: »So, und was sagst du nun, Caitlin? Bist du jetzt immer noch der Meinung, dass die Luke da oben in der Leichenkammer nicht unser Tor zur Freiheit ist?«
    Caitlin brachte nicht einen Ton heraus, sondern starrte Éanna mit offenem Mund an.
    Emily dagegen vermochte ihre Begeisterung kaum zu zähmen. Fast wäre sie Éanna vor Freude um den Hals gefallen. Sie beherrschte sich jedoch im letzten Moment, bevor sie die Aufmerksamkeit der Aufseherin auf sich ziehen konnte. »Wann wagen wir es?«, raunte sie aufgeregt.
    »Noch heute Nacht!« Éanna zögerte nicht einen Wimpernschlag. »Was ist mit dir, Caitlin? Bist du dabei?«
    »Der Teufel soll mich holen!«, murmelte Caitlin und brachte ein verblüfftes Grinsen zustande. »Du bist wirklich nicht auf den Kopf gefallen, Éanna Sullivan, das muss ich dir lassen. Ich hätte Stein und Bein darauf geschworen, dass es keine Möglichkeit gibt, aus diesem verfluchten Haus der lebenden Toten zu kommen!«

Einunddreißigstes Kapitel
    Der Tag wurde ihnen lang. Sie fieberten der Nacht und der Stunde ihrer Flucht entgegen. Viel gab es nicht zu besprechen. Und bis auf ein paar Holzsplitter aufzusammeln und sie mit dem Fingernagel halb aufzuspalten, damit sie ihnen später als primitive Nadeln für die Jutefäden dienen konnten, gab es auch nichts vorzubereiten.
    Es musste ihnen einzig und allein gelingen, sich unbemerkt aus dem Schlafsaal und hinunter in die Leichenkammer zu schleichen. Ein kurzer Weg. Eine Sache von einer Minute, höchstens zwei. Immer wieder versicherten sie sich gegenseitig, dass sie eigentlich nichts zu befürchten hätten. Das Risiko, einer Aufseherin aufzufallen, hielt sogar Caitlin für äußerst gering. Nur oben auf der Fieberstation und unten in der Halle am Gang zu den stinkenden Latrinen gab es eine Nachtwache.
    Die Gänge und das Treppenhaus waren so spärlich mit Talglichtern versehen, dass sie eher Mühe haben würden, ihren Weg nach unten zu finden. Und wer von den nächtlichen Latrinengängern würde ihnen Beachtung schenken, wenn sie einander im Gang oder auf der Treppe begegneten? Jeder würde ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass ein drängendes menschliches Bedürfnis auch sie aus ihrer Bettkiste gescheucht hatte.
    An diesem Tag schien die Sonne, so blass und kraftlos sie auch über den fahlen Himmel kroch, einfach nicht im Westen verlöschen zu wollen. Und dann folgte das grässliche Essen im Speisesaal, das sich die drei Freundinnen förmlich hineinzwingen mussten. Sie waren so angespannt, dass sie nicht einmal den Hunger fühlten, der doch ohne Unterlass an ihnen nagte. Aber sie wussten, dass sie jedes Stück angeschimmelten Brotes und jeden Löffel pampiger Maissuppe bitter nötig haben würden.
    Als schließlich die Glocke in der Halle den Beginn der Nachtruhe verkündete und sich alle in die Schlafsäle zu begeben hatten, begann die schlimmste Zeit des Wartens. Sie hatten ausgemacht, mindestens zwei Stunden in ihren Bettkästen auszuharren, bevor sie aufstehen und sich nacheinander hinausschleichen wollten.
    Éanna wurde es zur Qual, wach und mit klopfendem Herzen auf den harten Brettern zu liegen.
    Lange lag sie da und lauschte auf die Geräusche in dem völlig überfüllten Schlafsaal.
    Nicht wenige wurden im Schlaf von Albträumen geplagt oder fanden überhaupt keine Ruhe. Es war ein vielstimmiger Chor aus Seufzen, Weinen und Wimmern, Stöhnen und Fetzen von Gebeten. In Éannas Ohren klang es wie die Wehklage von verlorenen Geisterseelen, die ruhelos durch

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