Wildes Herz
Kopf. Sie war viel zu erschüttert, als dass Caitlins Sticheleien sie hätten erreichen können. Ihre Gedanken galten allein Brendan, der sie seit drei Tagen für tot hielt. Für ihn gab es keinen Grund mehr, sich in der Nähe von Clifton Workhouse aufzuhalten. Er mochte sonst wo sein!
Die Vorstellung, erst in drei oder vier Monaten die Suche nach ihm aufnehmen zu können, entsetzte Éanna und krampfte ihr das Herz zusammen. Vielleicht war er inzwischen tatsächlich schon in Dublin. Aber genauso gut war es möglich, dass er der Stadt nun doch den Rücken zugekehrt hatte, nachdem Éanna nicht mehr bei ihm war. Wie sollte sie ihn nach so langer Zeit dann jemals wiederfinden?
Caitlin nahm gleichmütig ihre Arbeit wieder auf. »Ich weiß nicht, was du hast, Emily. Ich sehe die Dinge nun mal so, wie sie sind, und nenne sie auch beim Namen.«
Emily wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als plötzlich die Aufseherin mit zerfurchter Stirn zu ihnen herüberblickte. Hastig griff sie in ihren Korb und beeilte sich, mit dem Flechten fortzufahren. Aus den Mundwinkeln raunte sie Éanna zu: »Pass auf! Tu wenigstens so, als würdest du weiterarbeiten.«
Éanna nickte und tat es ihren Gefährtinnen gleich.
»Und ich sag es noch mal. Keine von uns wird hier vor dem Frühling rauskommen«, flüsterte Caitlin einige Augenblicke später, als die Aufseherin weitergegangen war. »Denkt an die Herren Großgrundbesitzer, die Dudley Boyle als Anstaltsleiter eingesetzt haben. Sie zahlen gerade mal das Allernötigste für uns. Und wenn Boyle nicht so viel wie möglich aus den paar Hundert Schäfchen aus seiner grauen Herde herausholt, die noch zu irgendeiner Art von Arbeit fähig sind, bricht hier die Versorgung völlig zusammen.«
Emily presste die Lippen zusammen und schwieg betreten. Caitlin mochte manchmal unerträglich giftig und zynisch in ihren Bemerkungen sein. Aber was sie gerade gesagt hatte, entsprach der niederschmetternden Wahrheit.
Lange fiel kein Wort zwischen ihnen. Minuten verstrichen unter bedrückendem Schweigen. Schließlich war es Éanna, die dem ein Ende machte. Ihre Stimme war leise, doch voller Trotz. »Meinetwegen können die Fenster vergittert, die Türen verriegelt und die Mauern von Clifton Workhouse noch so hoch und gut gesichert sein. Ich werde einen Weg finden, um aus diesem Gefängnis zu flüchten! Und zwar bald! Das schwöre ich euch, so wahr ich Éanna Sullivan heiße!«
Dreißigstes Kapitel
Flucht. Das war im Morgengrauen Éannas erster Gedanke und abends der letzte, bevor sie neben Emily im harten Bretterkasten einschlief. Und sogar im Schlaf träumte sie davon.
Unablässig zermarterte sie sich das Gehirn nach einer Möglichkeit zum Ausbruch aus dem Arbeitshaus. Sie wollte einfach nicht akzeptieren, dass jeder Versuch sinnlos und von vornherein zum Scheitern verurteilt sein sollte. Es musste einen Weg geben, auch wenn scheinbar alles dagegen sprach!
Hatte Brendan nicht bewiesen, dass es sehr wohl möglich war, aus der Anstalt auszubrechen? Dass ihm die Flucht aus dem Pfortenhaus und aufgrund eines glücklichen Zufalls gelungen war, tat dabei nichts zur Sache. Sie ließ keine Einwände gelten. Und dabei war ganz egal, ob sie von Caitlin kamen oder sich in ihren eigenen Gedanken vorsichtig zu regen wagten. Nein, die Schlösser, Mauern und Gitter von Clifton Workhouse würden über sie, Éanna Sullivan, nicht triumphieren!
Doch Éannas Zuversicht wurde auf eine harte Probe gestellt. Denn zwei quälend lange Tage und viele durchwachte Nachtstunden vergingen mit unermüdlichem Grübeln, und je länger sie über Fluchtmöglichkeiten nachdachte, desto schwerer fiel es ihr, zuversichtlich zu bleiben. Das Arbeitshaus war gesichert wie eine Festung, und die Aufseher taten ihr Übriges, um sie niemals vergessen zu lassen, dass sie noch lange Monate in diesem Elend fristen würden.
Am Morgen des dritten Tages jedoch wurde alles anders. Es geschah, als Éanna sich mit Emily und Caitlin auf dem Weg nach unten in den Speisesaal befand. Gerade hatten sie den unteren Treppenabsatz im zweiten Stockwerk erreicht, als Éannas Blick auf die weit offen stehende Tür der dunklen Leichenkammer am Nordende des Ganges fiel.
Dort stand Dermod Wickham über seinen plumpen, einachsigen Totenkarren gebeugt. Zwei Insassen hatten den neuen Tag nicht mehr erlebt. Gerade hob er eine der beiden Leichen, die in derbe Jutesäcke gehüllt waren, von seinem Karren und trug sie in die Kammer.
Jeder vermied es, in die Richtung
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