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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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die Nacht irrten, weil ihnen weder Himmel noch Hölle die Tore öffneten.
    Sie dachte an Brendan, der ihr beigebracht hatte, dass es auch in den schlimmsten Zeiten möglich war, für sich selbst eine Entscheidung zu treffen. Und genau das hatte Éanna heute getan. Sie hatte sich entschieden, und es war die richtige Wahl gewesen.
    Plötzlich hielt es Éanna nicht mehr länger aus. Es war ihr egal, ob die verabredeten zwei Stunden schon um waren oder nicht. Der Drang, endlich dem Schlafsaal und der Wehklage, ja dem entsetzlichen Elend des Arbeitshauses zu entkommen, wurde übermächtig. »Ich muss hier raus!«, flüsterte sie Emily zu. »Ich gehe vor, wie wir es ausgemacht haben.«
    »In Ordnung! Pass bloß auf dich auf!«, raunte ihre Freundin zurück und drückte kurz ihre Hand. »Gebe Gott, dass alles gut wird.«
    Mit heftig hämmerndem Herzen richtete sich Éanna auf. Als sie aus dem Bettkasten stieg und kurz nach links zu Caitlin blickte, hob diese kurz die Hand von der Brust, zum Zeichen, dass sie bereit war.
    Mit gesenktem Kopf schlurfte Éanna über den Mittelgang zur Tür, die einen Spaltweit offen stand. Sie schlüpfte hinaus in den Gang.
    Der Schein der Talgkerze, die auf der Höhe der Treppe in einem verrosteten Blechgehäuse an der Wand hing, reicht noch nicht einmal bis zu ihr heran. Angespannt spähte Éanna in die kalte Dunkelheit. Niemand war in Sicht! Schnell eilte sie an den zwei weiteren Schlafsälen vorbei auf die Treppe und den schwachen Lichtschein zu. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, als sie die Treppe auf Zehenspitzen hinunterschlich und den Gang im zweiten Stockwerk genauso ausgestorben vorfand wie den im oberen Geschoss. Augenblicke später glitt sie fast lautlos aus dem kläglichen Lichtkreis am Treppenende und tauchte in den Schutz der tiefen Dunkelheit ein, die über dem hinteren Drittel des Ganges vor der Totenkammer lag.
    Zitternd tastete ihre Hand über die rauen Bretter der Tür, suchte nach dem klobigen Holzriegel und fand ihn. Vorsichtig hob sie ihn an und zog die Tür auf. Es knarrte, ein tiefer, lang gezogener Laut, und Éanna erstarrte vor Schreck.
    Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Dunkelheit. Doch weder die Warnrufe einer Aufseherin noch die Aufforderung, stehen zu bleiben, klang durch die Finsternis. Gerade wollte sie sich wieder in Bewegung setzen, als sie eine Gestalt von oben die Treppe zu ihr in den zweiten Stock herunterkommen sah.
    Dann fiel das Licht der Kerze auf sie, und Éanna sah zu ihrer unsäglichen Erleichterung, dass es Emily war – und da folgte ihr auch schon Caitlin nur mit wenigen Schritten Abstand.
    Als Emily bei Éanna eintraf, bedeutete sie ihrer Freundin stumm, mit ihr vor der Tür auf Caitlin zu warten.
    »Was ist? Traut ihr euch ohne mich nicht in die Leichenkammer?«, fragte Caitlin spöttisch, als sie die beiden erreichte.
    »Bilde dir bloß nichts ein«, zischte Emily.
    »Ja, wir haben genauso wenig Angst davor wie du«, flüsterte auch Éanna gereizt. »Es ist nur wegen der Tür. Sie knarrt. Und es reicht ja wohl, wenn sie gleich noch ein zweites Mal knarrt, anstatt sechs Mal! Und jetzt kommt!«
    Ohne dass ein weiteres Wort fiel, schlichen sie hintereinander in die Kammer. Der Raum maß gerade mal vier Schritte im Quadrat. Er lag halb im milchig blassen Licht des aufgehenden Mondes, das durch die breite Fensteröffnung fiel. Die beiden hölzernen Schlagläden waren nach außen aufgeklappt, damit die Winterkälte ungehindert eindringen konnte.
    Behutsam zogen sie die Tür bis auf einen drei Finger breiten Spalt zu sich heran. Dann holte Éanna ein Stück Weidenrute aus ihrem Kleid, die Emily durch den Spalt zwischen Rahmen und Tür schob und den Riegel damit anhob. Schließlich zog Éanna die Tür fest zu, und Emily sorgte mit dem dünnen Stecken dafür, dass sich der Holzriegel auf der anderen Seite langsam in die Halterung senkte.
    Einen Moment lang standen sie schweigend an der Tür, als wüssten sie nicht, weshalb sie sich an diesen Ort geschlichen hatten und welche Aufgabe sie hier erwartete.
    Es war nicht Angst vor den fünf Toten, die auf der rechten Seite in Jutesäcken in drei Schichten aufeinanderlagen, die sie einige Sekunden lang schweigend verharren ließen.
    Der Tod war für keinen Iren, ganz gleich welchen Alters, etwas Fremdes oder gar Anstößiges, vor dem man sich zu verbergen suchte und über den man nicht sprach. In den vergangenen zwei Jahren der Hungersnot hatte Éanna, Caitlin und Emily zu viele von ihnen zu Gesicht

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