Wildes Herz
seine Arbeitsstelle zu weit entfernt lag?
Kaum war die Stunde verstrichen und Éanna hatte sich von Mr O’Brien verabschiedet, raste sie auch schon wieder zurück an ihren angestammten Platz.
Doch auch an diesem Sonntag wartete Éanna vergeblich bis in die späten Abendstunden.
In der darauffolgenden Woche war es Emily, die sich immer größere Sorgen um die Freundin machte. Sie beschwor Éanna, sich zusammen mit ihr Arbeit zu suchen, denn die Zeit, in der sie freie Kost und Logis bei Mrs Skeffington hatten, neigte sich dem Ende zu.
»Es hat doch keinen Sinn, Éanna«, sagte Emily leise. Sie saßen zusammen in Éannas kleiner Kammer. Der Morgen graute vor dem Fenster, und Éanna zog gerade ihren Umhang an, um sich abermals auf den Weg machen. »Meinst du nicht, du musst jetzt an dich denken?«
Éanna schüttelte störrisch den Kopf und antwortete mit einer Gegenfrage. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir damals im Steinbruch geholfen habe?«
Emily nickte. »Das werde ich dir nie vergessen.« Sie blickte die Freundin voll Dankbarkeit an.
»Damals habe ich daran geglaubt, dass man im Leben immer etwas zurückbekommt.« Sie sah Emily fest an. »So unwahrscheinlich es auch sein mochte.«
Emily nickte nachdenklich. »Und dann haben wir uns wiedergetroffen.«
»Und du hast mein Leben gerettet!« Éanna wandte sich zur Tür. »Mit Brendan ist es ähnlich. Wenn ich nur fest genug daran glaube, dann werde ich ihn finden. Ich weiß es einfach.«
Sie schulterte ihr Bündel und öffnete die Tür der Kammer. »Ich muss los«, sagte sie.
Der Tag zog sich wie die vorangegangenen in die Länge, und die Winterkälte hielt Dublin immer noch im eisernen Griff. Doch Éanna hatte ihren neuen warmen Mantel an, und sie spürte die Kälte nicht, wenn sie an Brendan dachte.
Und auch wenn ihre Augen bereits nach wenigen Stunden tränten, musterte sie doch jeden Kirchgänger mit der gleichen Intensität.
Erst in den Abendstunden – als die blasse Sonne bereits untergegangen war – geriet ihre Zuversicht und damit ihre Aufmerksamkeit ins Wanken. Morgen war der letzte Tag in der Pension von Mrs Skeffington. Und was dann? Éanna wusste es nicht. Vielleicht hatte Emily recht. Bis jetzt hatte sie jeden Gedanken an eine Zukunft ohne Brendan hartnäckig beiseitegeschoben, aber sobald der heutige Tag verstrichen war, würde sie sich den Tatsachen stellen müssen.
Du musst daran glauben, beschwor sie sich. Du musst fest daran glauben.
Hinter ihr wurde das Kirchenportal geöffnet.
»Entschuldigen Sie«, hörte sie eine zaghafte Stimme, und es gab ihr einen Stich ins Herz. »Sie … Sie erinnern mich an jemanden, den ich einmal gekannt . . .«
Weiter kam er nicht. Éanna wirbelte herum und da stand er vor ihr. Sein rotes Haar stand genauso widerspenstig von seinem Kopf ab wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte. Er sah schmaler aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, und die Schatten unter seinen Augen schimmerten dunkelviolett.
Aber es gab keinen Zweifel. Es war Brendan.
Er stand wie erstarrt, die Augen weit aufgerissen. »Was in aller Welt … Éanna?« Es kam zögernd, als könnte er seinen Augen nicht trauen, und so musste es ihm ja auch vorkommen.
»Ich bin es wirklich, Brendan!«, schluchzte sie und fiel ihm im nächsten Moment um den Hals. »Wirklich, ich bin es.«
»Éanna.« Das war das Einzige, das er herausbrachte, als er sie jetzt festhielt, als wolle er nie mehr loslassen.
»Éanna? … Éanna«, stammelte er viel später. »Mein Gott, du lebst!« In seiner Stimme lag unbeschreibliches Glück. Er sah sie an und strich ihr über die Wange, ganz zart, als könne er immer noch nicht glauben, was geschehen war.
Irgendwann liefen sie los, Hand in Hand durch die Straßen von Dublin. Plötzlich blieb sie stehen und umfasste seine Schultern.
»Kurz bevor ich ins Eis eingebrochen bist, da hast du vorausgesagt, dass ich mich auf eigene Faust nach Dublin durchschlagen werde. Und dass ich dort das große Glück mache.«
Er grinste sie schief an, dieses ganz besondere Grinsen, das Éanna so liebte. »Na ja, eine Voraussage würde ich das nicht gerade nennen«, erwiderte er.
Sie sah ihn ernsthaft an. »Aber du hast recht gehabt. Ich habe es geschafft. Ich bin auf eigene Faust nach Dublin gekommen. Und ich habe das große Glück gemacht.» Sie schluckte, bevor sie sich einmal um die eigene Achse drehte. Ihre Haare wirbelten im kalten Nachtwind.
»Erinnerst du dich auch noch an meine Worte danach?«
Er nickte und strahlte
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