Wildes Herz
seinen Schultern hoch. Der rote Felsen strahlte Sonnenwärme ab, trotzdem fürchtete sie, Ty könnte sich wieder erkälten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wenn er noch einmal krank wurde. Die endlosen Nachtwachen hatten sie zermürbt - ebenso wie die Angst. Was nützte es, wenn sie ihm bei der Flucht vor Cascabel und seinen Banditen half und dann seinen Tod verschuldete, weil sie ihn durch den kalten Regen in ihr geheimes Tal schleppte?
Vor fünf Jahren war ihr Vater gestorben. Sie war erst fünfzehn gewesen und allein an einem schlammigen Wasserloch im Süden Arizonas zurückgeblieben. Tys Verletzungen und sein Fieber hatten die Erinnerungen zurückgebracht. Seine Haut war so heiß gewesen. Dann wieder hatte er sich, in kaltem Schweiß gebadet, rastlos umhergeworfen und die Namen ihr unbekannter Personen gerufen. Er kämpfte in Schlachten, von denen sie nie etwas gehört hatte, und schrie seinen Schmerz über tote Kameraden hinaus. Sie hatte versucht, ihn zu trösten und zu beruhigen. In den kalten Stunden vor Sonnenaufgang hatte sie ihn dicht am Körper gehalten. Wenn das Fieber zu hoch stieg, wusch sie ihn mit kaltem Wasser; wenn das Frieren wieder begann, wärmte sie ihn an ihrem Körper.
Nun wich Ty vor ihr zurück.
Sei nicht albern, sagte Janna sich, den Schlafenden betrachtend. Er erinnert sich an gar nichts. Er hält dich für einen dürren Jungen. Kein Wunder, dass er nicht gestreichelt werden will. Aber wie kann er so blind sein und nicht erkennen, was sich unter den Männerkleidern verbirgt?
Auf dem Weg zum Lagerfeuer, wo die Suppe kochte, überlegte Janna, was geschehen wäre, hätte Ty gewusst, dass sie ein Mädchen war.
Die Erkenntnis, wie tief ihr Verlangen war, von ihm als Frau erkannt zu werden, traf sie wie ein Schlag. Der Fremde war zufällig in ihr Leben getreten, und sie hatte eine tiefe Zuneigung zu ihm entwickelt. Er würde wieder verschwinden, sobald die Verletzungen verheilt waren. Dann jagte er weiter seinen Träumen nach, so wie viele andere Männer, die, getrieben von ihrer Gier nach Gold und Ruhm, das Geisterpferd Lucifer besitzen wollten.
Er war viel zu begriffsstutzig, um hinter dem vermeintlich schmächtigen Knaben die einsame Frau zu erkennen.
Einsam?
Janna hielt beim Umrühren der Suppe inne. Sie war seit Jahren allein, aber einsam hatte sie sich nie gefühlt. Die Pferde waren ihre Gefährten, der Wind ihre Musik, das Land ihr Lehrer, und die Bücher ihres Vaters hatten ihr immer neue geistige Welten erschlossen. Wenn sie Sehnsucht nach menschlichen Stimmen hatte, war sie nach Sweetwater, Hat Rock oder Indian Springs gegangen. Jedes Mal hatte sie diese Außenposten der Zivilisation nach wenigen Stunden wieder verlassen, fortgetrieben von Männern, die gierig beobachteten, wie sie ihre Einkäufe mit winzigen Goldklumpen bezahlte. Anders als Ty erkannten manche von ihnen, was sich hinter dem jungenhaften Äußeren verbarg.
Trübsinnig starrte Janna in die brodelnde Suppe. Der würzig riechende Eintopf aus Fleisch und Gemüse war fertig. Sie goss eine Portion in ihren tiefen Blechteller und ließ die Suppe etwas abkühlen, damit Ty sich nicht den Mund verbrannte. Dann nahm sie Löffel und Teller und ging zum Felsüberhang.
Ty schlief noch immer. Eine gewisse Veränderung zeigte, dass er sich auf dem Weg der Genesung befand. Er war stärker als ihr Vater, der an Schwindsucht gelitten hatte. Obwohl Ty schlimme Verletzungen davongetragen hatte, waren seine Wunden bereits viel kleiner als vor wenigen Tagen. Die Schwellungen an den Rippen waren zurückgegangen, und die Beule am Kopf, wo ihn ein Knüppelschlag getroffen hatte, war verschwunden.
Harte Muskeln und ein noch härterer Schädel.
Als spürte er, beobachtet zu werden, schlug er die Augen auf. Das klare Edelsteingrün beruhigte Janna und machte sie gleichzeitig nervös. Einerseits froh, dass er nicht mehr im Fieberwahn lag, empfand sie bei seinem Blick ein gewisses Unbehagen. Er mochte auch nur einer der Männer sein, die gierig nach Gold und Mustangs waren, aber im Gegensatz zu anderen, die niemals über Tagträumereien hinauskamen, besaß er die Kraft, die Intelligenz und die Entschlossenheit, seine Ziele zu erreichen.
„Sind Sie noch immer hungrig?“ fragte sie mit belegter Stimme.
„Hast du die arme Zebra für mich gekocht?“
Das verhaltene Lächeln versetzte sie in Aufruhr. Auch wenn sein Gesicht von Bartstoppeln übersät war und er verletzt am Boden lag, war Ty einer der bestaussehenden Männer, die
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