Wildes Lied der Liebe
umzudrehen und den freundlichen Kaufmann anzublicken, statt einfach wie eine Diebin die Flucht zu ergreifen. »Ja?«
»Wenn Sie die Brosche zurückhaben möchten, kommen Sie zu Gus. Ich werde das schöne Stück für Sie aufheben.«
»Aber Ihre Schwester ...«
Er zuckte die breiten Schultern. »Bertha ist eine einfache Frau, ihr gefallen einfache Dinge am besten.«
Christy verschlug es die Sprache. Schon lange war sie keinem so großzügigen Menschen mehr begegnet. Daher nickte sie nur schnell und eilte hinaus, um nicht in Tränen auszubrechen. Der schwarze Hund saß an der Türschwelle und jaulte kummervoll auf, als sie an ihm vorbeiging.
Fünf Minuten später stand Christy staunend vor Jake Vigils Haus. Das weiße, holzverkleidete Gebäude war doppelt so groß wie das Farmhaus in Virginia und hatte Giebelfenster mit blauen Fensterläden. Eine Veranda zog sich um das ganze Haus herum wie das Außendeck eines Raddampfers auf dem Mississippi. Ein weiß gestrichener Zaun begrenzte den Garten, und zu beiden Seiten der Steintreppe waren Rosenbüsche gepflanzt worden.
Christy wagte es nicht, das Haus allzu lange zu betrachten, und ging eilig zur Mühle hinüber, um geschäftlich mit Mr. Vigil zu sprechen. Sie wollte Baumaterial für ein neues Dach kaufen, und nicht einmal Marshal Shaw hätte daran etwas auszusetzen haben können. Nicht dass sie ihn nach seiner Meinung fragen würde.
Jake Vigil begrüßte sie freudig überrascht. Hier, auf seinem eigenen Grundstück, im Büro seines florierenden Bauholzgeschäftes wirkte er gleich viel ruhiger. Er bot Christy einen Platz und eine Tasse Kaffee an, die sie höflich ablehnte.
»Ich möchte etwas bei Ihnen bestellen«, verkündete Christy. Sie hatte sich zwar nur schweren Herzens von der Brosche ihrer Mutter getrennt, dennoch verschaffte es ihr eine gewisse Befriedigung, das Ziel erreicht zu haben, das sie sich gesetzt hatte. »Ich brauche ein neues Dach und würde bei Ihnen gern Teerpappe kaufen, wenn Sie sie beschaffen können.«
Mr. Vigil saß auf der Kante seines großen Schreibtischs, auf dem ein heilloses Durcheinander herrschte, und sah Christy nachdenklich an. »Ein Dach?« Zweifellos hatte er den Namen McQuarry erkannt und glaubte, sie wohne bei Bridget und Trace.
»Für die alte Indianerhütte am Primrose Creek«, erklärte Christy und wand sich kaum merklich unter seinem prüfenden Blick.
»Die Indianerhütte?«
Christy unterdrückte ein Seufzen. Musste dieser Mann denn jedes ihrer Worte wiederholen? Möglicherweise war Mr. Vigil kein allzu heller Kopf. Doch das konnte nicht stimmen, denn schließlich hatte er allein dieses Imperium aufgebaut. »Meine Schwester Megan und ich sind Cousinen von Mrs. Qualtrough und ihrer Schwester Skye. Wir haben die Hälfte des Besitzes am Primrose Creek geerbt, genauer gesagt, die zwölfhundertfünfzig Morgen auf dieser Seite des Flusses. Da Trace und Bridget wahrhaftig schon genügend Hausbewohner zu versorgen haben, erschien es uns klüger, die alte Hütte herzurichten und dort zu wohnen, bis sich eine andere Lösung findet.« Bei ihren letzten Worten musste Christy rasch den Blick senken.
»Bei Zeus!«, rief Mr. Vigil in einem Tonfall, der vermutlich selbst den Olymp erschüttert hätte. »Sie können doch nicht in dieser ... Ruine leben!«
Christy beugte sich ein wenig vor. Sie klammerte sich an ihren Stolz wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz. »Ich versichere Ihnen, Mr. Vigil, dass wir eben dies tun werden. Zumindest für den Augenblick.«
Verblüfft schüttelte er den Kopf. »Hol mich der Teufel«, murmelte er. »Was hat denn Trace zu diesen Plänen zu sagen?«
»Einiges, da bin ich mir sicher«, erwiderte Christy und stand so anmutig und würdevoll auf, wie sie es nur vermochte. »Doch er ist Bridgets Ehemann, nicht der meine. Ich bin ihm keinerlei Gehorsam schuldig. Also, Mr. Vigil, werden Sie mir das Baumaterial verkaufen, das ich benötige, oder nicht?«
Er brummte etwas Unverständliches, nickte dann jedoch. »Ich kann Ihnen die Bestellung morgen früh ausliefern lassen.«
»Danke«, erwiderte Christy knapp. Sie einigten sich auf einen Preis, der ihr immerhin noch etwas Geld übrig ließ, und verabschiedeten sich dann voneinander.
Wie sie es Caney versprochen hatte, kehrte Christy noch vor dem Mittag nach Hause zurück. Megan stand am Flussufer und angelte. Sie hielt eine erkleckliche Anzahl an Forellen hoch, als sie Christy sah. Ein üppiges Abendessen schien gesichert zu sein. Caney stand ein
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