Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
vor ihr hatte.
»Komm doch!«, schrie ich in den Himmel. »Komm doch, dann bringen wir es hinter uns!«
Niemand antwortete. Niemand kam.
Mein hämmerndes Herz schlug nicht mehr ganz so heftig. Mein Atem kam zur Ruhe. Ich fing an zu frieren, und noch immer passierte nichts. Sie kam nicht.
Schließlich machte ich mich daran, eine Grube in den gefrorenen Sand zu scharren, um Fetzenohr und ihre toten Rudelmitglieder begraben zu können. Solche armseligen Rituale wären Fetzenohr wahrscheinlich ziemlich egal gewesen, aber ich war ein Mensch und kein Wildhund. Ich konnte nicht einfach weggehen und sie den Möwen und Krähen überlassen, auch wenn das viel natürlicher gewesen wäre. Immerhin hatte sie mir das Leben gerettet.
Während ich scharrte, schlenderte Kater über den Strand auf mich zu, als wäre nichts gewesen. Ich stoppte mitten im Graben und starrte ihn feindselig an.
»Wieso hast du mir nicht geholfen?«, fragte ich.
Habe ich doch .
Er machte einen Buckel und gähnte. Er hatte etwas unendlich Selbstgefälliges an sich, das mich nur noch zorniger machte.
»Verzieh dich«, sagte ich. »Wenn das deine Art ist, mir zu helfen, dann kann ich darauf verzichten.«
Er setzte sich in den Sand und fing an, sich sorgfältig die Vorderpfote zu schlecken. Die Botschaft war eindeutig. Er war kein kleiner Hund, der kam, wenn ich ihn rief, und er hatte auch nicht vor zu verschwinden, nur weil ich es so wollte.
14 VESTMARK
Das Haus war größer, als es auf dem Foto gewirkt hatte. Vier Stockwerke hoch, mit Giebeln und Dachkammern nach allen Richtungen, sechs Schornsteinen und einem Wetterhahn, der wohl irgendeinen Raubvogel darstellen sollte – einen Habicht oder Falken oder vielleicht einen Mäusebussard. Aus der Ferne sah das Haus schwarz aus, aber jetzt, wo ich nur noch 40 oder 50 Meter davon entfernt war, konnte ich erkennen, dass es in Wirklichkeit in einem moosartigen Dunkelgrün gestrichen war. Das galt zumindest für den oberen Teil aus Holz. Der untere Teil, Keller und Erdgeschoss, war aus dunkelgrauen Steinblöcken gebaut. Dieselbe Art Steine war für die Mauer verwendet worden, die den Garten umgab, wenn man diese windzerzauste Ansammlung von Kiefern, Schlehenbüschen, Brombeergestrüpp, Heide und Quecken so nennen konnte, die dem, was außerhalb der Mauer wuchs, zum Verwechseln ähnelte.
Der Pfad, dem ich folgte, führte zu einem friedhofsähnlichen Tor aus rostigem Schmiedeeisen. Brombeerranken schlängelten sich durch das Gitter, und es war deutlich zu sehen, dass das Tor lange nicht mehr geöffnet worden war. Es musste einen anderen Eingang geben, der öfter genutzt wurde, dachte ich. Oder vielleicht auch nicht? Chimära konnte ja einfach über die Mauer fliegen, wenn sie dazu Lust hatte.
Ich blieb ein Stück abseits im Schatten einiger Kiefern stehen, die mir sowohl vor dem Wind als auch vor feindlichen Blicken ein wenig Schutz boten – falls denn jemand Ausschau hielt. Der Himmel war noch immer so blank wie ein unbeschriebenes Blatt Papier – keine Möwen, weder versklavte Blutmöwen noch gewöhnliche. Und auch keine Chimära.
Ich verstand es nicht. Ich hatte sie gehört und gesehen. Wieso hatte sie kehrtgemacht? Natürlich wäre es für sie leichter gewesen, hätten die Wildhunde ihr die Arbeit abgenommen und mich so lange festgehalten, bis sie gelandet war. Aber selbst ohne die Hunde wäre es wohl kaum eine große Herausforderung für sie geworden. Als sie mich im letzten Herbst fing, brauchte sie ungefähr fünfzehn Sekunden, um mich auf den Boden zu werfen und mir ein eisernes Halsband anzulegen. Dass ich ihr später entkommen konnte, war mehr Glück als Verstand gewesen.
Aber Chimära hatte sich zurückgezogen. Und ließ sich seitdem nicht mehr blicken. Wäre der Gedanke nicht so absurd gewesen, hätte man fast glauben können, an Shanaias Behauptung, Chimära habe Angst vor mir, sei wirklich etwas dran. Das machte mir Mut. Als hätte ich tatsächlich eine Chance …
Der Wind raschelte im Gras, schüttelte die Äste der Kiefern, und der Geruch von Kiefernnadeln streifte meine Nase. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben, sagte ich zu mir selbst. So gesehen gab es nur zwei Möglichkeiten – umdrehen oder weitergehen.
Die Scharniere quietschten, als ich das Gittertor aufdrückte, wenigstens ein kleines Stück, denn die Brombeerranken machten es unmöglich, es ganz zu öffnen. Der Spalt war gerade groß genug, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Links und rechts von mir türmte sich
Weitere Kostenlose Bücher