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Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken

Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken

Titel: Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lene Kaaberbol
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eine kleine Treppe hoch – nur vier Stufen –und durch die nächste Tür. Ich verspürte einen eigenartigen Drang »Hallo?« zu rufen oder »Hey!« oder so was, aber ich tat es nicht. Es wäre natürlich schön gewesen, wenn Oscar oder Tante Isa geantwortet hätten, aber ich fürchtete, die Wahrscheinlichkeit, dass ich von anderen, deutlich feindlicheren Ohren gehört werden würde, war weit größer.
    Ich kam in eine große, alte Küche mit Holzofen und einem riesigen Gasherd. Staubige Sträuße geradezu mumifizierter Küchenkräuter und Zwiebelstränge baumelten von den Deckenbalken, und an den Wänden hingen schwere emaillierte Eisentöpfe und Bratpfannen. In einer Ecke stand ein hellgelber 50er-Jahre-Kühlschrank, was für sich genommen vielleicht gar nicht mal merkwürdig war, aber dieser hier sah aus, als wäre er wirklich aus den 50ern und keine schicke Retro-Nachbildung.
    »Hau ab.«
    Die Stimme klang piepsig und heiser zugleich, und ich machte vor Schreck einen Riesensatz. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass hier jemand war. Hektisch sah ich mich um, aber ich konnte niemanden entdecken.
    »Hallo?«, sagte ich trotzdem.
    »Hau ab.«
    Mein Herz hämmerte gegen mein Brustbein. Hier war niemand, und trotzdem konnte ich die heiseren Worte hören, ganz deutlich und ganz nah.
    »Wo bist du?«, flüsterte ich. »Ich kann dich nicht sehen.«
    »Hau ab.«
    Mein Blick fiel auf einen Vogelkäfig, der an einem Haken zwischen den Töpfen und Pfannen hing. Ein Papagei?
    Aber es hatte nicht geklungen wie ein Papagei.
    Ich machte einen Schritt rückwärts, um besser sehen zu können, was in dem Käfig saß.
    Es war ein Vogel. Ein großes, trauriges Vogelwesen mit eulenähnlichem Körperbau und struppigem graubraunem Gefieder. Aber dann auch wieder nicht. Das Gesicht war kein Eulengesicht. Da war kein Schnabel, sondern eine Nase und ein Mund, keine dunklen Eulenaugen, umgeben von hellen Federn, sondern stattdessen Haut, Augenbrauen, Menschenaugen.
    In einem Anfall nervöser Neugier hatte ich irgendwann in den Weihnachtsferien »Chimära« im Internet nachgeschlagen, aber nur jede Menge Artikel über Chimären gefunden – ein altes griechisches Wort, das ein Mischwesen aus zwei Tieren bezeichnete. Oder, noch erschreckender, aus einem Tier und einem Menschen. Wie diese Chimäre hier.
    »Hau ab«, sagte sie, mutlos und traurig, während ihr die Tränen in einem konstanten Strom über das Mädchengesicht kullerten und noch auf dem Gefieder der Vogelbrust weiter unten eine nasse Spur hinterließen.
    Ich bekam eine Gänsehaut. Vögel sollten Schnäbel und Klauen haben, keine Menschengesichter und keine weichen Finger, wo eigentlich Krallen sitzen sollten.
    »Wer bist du?«, fragte ich.
    »Nichts.«
    »Was?«
    »Nichts«, wiederholte sie.
    »Hast du keinen Namen?«
    »Doch. So nennt sie mich. Nichts.«
    »Sie?«, sagte ich. »Meinst du Chimära?«
    Sie nickte, eine kleine, kurze, abgehackte Bewegung, sehr vogelhaft.
    »Meine Mutter«, sagte sie dann.

15  NICHTS

    Die Chimäre saß auf einer Stange in ihrem Käfig und schaute mich missmutig an, während die Tränen weiter in stillem Strom auf das nasse Brustgefieder rannen.
    »Chimära ist deine Mutter?«, fragte ich, um ganz sicher zu gehen.
    »Sie hat mich gemacht«, sagte sie und nickte wieder dieses kleine, abgehackte Vogelnicken.
    Ich starrte das Menschenvogelwesen an. Ihre Augen waren dunkler als Chimäras, eher goldbraun als raubvogelgelb, aber ihre Nase war genauso gebogen und scharf. Eine gewisse Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen.
    »Aber … wieso hat sie dich dann in einen Käfig gesteckt?«
    »Ich bin doch misslungen. Aus mir ist nichts Brauchbares geworden. Ich bin nur … ein Nichts.« Sie schlug mit den Flügeln. »Irgendwann hatte sie genug davon, dass ich ihr immer nachlief. Ich habe versucht, es zu lassen, aber … aber es ging nicht. Es ist wirklich sehr schwer, damit aufzuhören, seiner Mutter nachzulaufen.«
    Das war wahrscheinlich das Traurigste, was ich je gehört hatte. Wobei fast noch schlimmer war, dass sie es so ruhig erzählte, als wäre es vollkommen natürlich und verständlich, dass Chimära getan hatte, was sie getan hatte.
    Plötzlich nieste sie, ein leises, durchdringendes Niesen wie von einem Kätzchen oder einem sehr kleinen Hund. Gleichzeitig schoss ein dünner gelblich-weißer Strahl unter den Schwanzfedern heraus.
    »Tschuldigung«, sagte sie und schniefte kräftig. »Ich reagiere ein bisschen allergisch auf Staubmilben, aber

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