Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
die Mauer auf, hoch und dick. Es kam mir vor, als müsste ich eine Kluft zwischen zwei Felswänden durchqueren.
Wer zur Hölle baut eine Gartenmauer, die zwei Meter hoch und fast drei Meter breit ist?, dachte ich. Ich streckte die Hand aus und berührte die dunklen, bröckelnden Steine, und mit einem Mal begriff ich, dass das gar keine Garten mauer war, sondern die Reste eines anderen Gebäudes, größer und älter als das auch nicht gerade neu errichtete Haus, das weiter vorne wartete. Vestmark war aus den Ruinen von etwas anderem gebaut worden, das schon hier gewesen sein musste, lange bevor die Kiefern gewachsen waren, so lange, dass die Steine der Mauer Risse bekommen hatten, im Wind, Regen, Salzwasser und Frost der Jahrhunderte verwittert und vom Eis zersprengt.
Kiiiiiiirrr. Ein hoher, lang gezogener Schrei ließ mich nach oben schauen. Aber es war nicht Chimära, die im Sturzflug auf mich zuschoss, die Flügel steif im Wind ausgebreitet. Es war der Wetterhahn. Mein Herz machte einen Satz, und für einen kurzen Augenblick sah es wirklich so aus, als wäre die Eisenfigur vom Dach lebendig geworden. Aber es war schon die ganze Zeit ein echter Vogel, der nur wie ein Wetterhahn ausgesehen hatte, weil er so reglos dort oben auf seiner Stange saß, eine schwarze Silhouette gegen den schneegrauen Himmel.
Es war der Turmfalke. Ich war mir ganz sicher, dass es derselbe war, obwohl ich ihn natürlich streng genommen nicht von anderen Turmfalken hätte unterscheiden können. Kiiiiiiiiirrrr. Er strich tief über meinen Kopf hinweg, aber er landete nicht, weder auf der Hand, die ich unwillkürlich ausstreckte, noch auf den Ästen der Kiefer. Ich wusste nicht, was er wollte. Aber es war kein Angriff, und er war so dicht herangekommen, dass ich sehen konnte, dass er nicht den Blutschimmer der Sklaventiere in seinen gelben Augen hatte.
»Soll ich das als Begrüßung auffassen?«, fragte ich leise. »Oder heißt das einfach nur ›Verschwinde‹?«
Er antwortete nicht. Er strich nur in einem fegenden Bogen über die Wiese und legte sich auf den Wind, um besser steigen zu können. Einen kurzen Moment stand er im Aufwind fast still über meinem Kopf, dann schlug er ein paarmal mit seinen gestreiften Flügeln und kehrte an seinen Platz auf der Wetterhahnstange zurück.
Links und rechts vom Weg wuchsen Stachelbeerbüsche und niedrige, kleine knorrige Apfelbäume. Es mussten die Überreste eines Küchengartens sein. Auch hier war es lange her, dass jemand getan hatte, was nötig war, wenn ein Garten ein Garten bleiben sollte, aber es war natürlich auch nicht ganz einfach, sich vorzustellen, wie Chimära auf den Knien in der Erde wühlte und Kohl und Petersilie anbaute. Konnte sie überhaupt knien? Was passierte mit ihren Flügeln, wenn sie es versuchte?
Ich schielte wieder nach oben, aber es war noch immer keine riesige Vogelfrau zu sehen. Das hätte beruhigend sein können, war es aber nicht. Es kam mir vielmehr so vor, als würde sie irgendwo lauern, wo ich sie nicht sehen konnte, und das war tatsächlich noch schlimmer.
An der Giebelseite des Hauses war eine Tür – oder besser gesagt, an einer der vielen Giebelseiten und Seitenflügel, die vom Haupthaus abgingen. Die Tür war verschlossen, aber an einem Nagel im Türstock hing ein großer, altertümlicher Eisenschlüssel, der, wie sich herausstellte, in das Schloss passte. Warum dann überhaupt abschließen? Es sei denn natürlich, es ging nicht darum, Diebe und andere ungebetene Gäste draußen zu halten, sondern um jemanden oder etwas einzusperren. Auch kein beruhigender Gedanke.
Ich trat in einen schummerigen Flur. An einer Garderobeleiste hingen Jacken und Regenmäntel, ein Strohhut und ein altmodischer Südwester – einer von diesen Regenhüten, die Fischer auf alten Fotos tragen. Darunter standen Holzclogs und Gummistiefel in unterschiedlichen Größen und ein mit Zeitungen ausgelegter Spankorb, in dem ein paar alte, vertrocknete Zwiebeln lagen. Alles zusammen sehr normal und alltäglich, wären da nicht die Spinnweben und die dicke graubraune Staub- und Schimmelschicht in den Falten der Mäntel und auf den Clogs und Gummistiefeln gewesen. Unter der Decke hing eine laternenartige Glaslampe, und neben dem Türstock entdeckte ich einen dunkelbraunen Lichtschalter, der aussah, als wäre er ungefähr 1930 dort angebracht worden. Ich versuchte, das Licht anzuknipsen, aber nichts tat sich. Wahrscheinlich hatte ich das aber auch gar nicht erwartet.
Ich ging weiter,
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