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Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken

Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken

Titel: Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lene Kaaberbol
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    »Nicht Mensch. Nicht Tier. Nichts soll sich an dich erinnern. Was du tust, sei ungetan, was du sagst, ungesagt, was du schreibst, sei ausradiert. Ob du von nun an lebst oder stirbst, ist mir gleich. Denn du bist vergessen, vergessen, vergessen, und auf ewig sollst du dem Vergessen gehören.«

    Ich weiß kaum, wie ich nach Hause kam. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte es nicht geschafft. Dann hätte ich das Vergessen in den Augen meiner Kinder nicht sehen und nie erfahren müssen, wie zerbrechlich die Erinnerung ist.

    Ich bin Viridian. Ich bin noch hier. Jetzt erst weiß ich wirklich, wieso Menschen Gedenksteine errichten und Bücher schreiben. Dass sie erinnert werden wollen, wenn sie nicht mehr sind, ist nicht schwer zu verstehen. Aber das alleine ist nicht der Grund. Denn man kann vergessen werden, obwohl man noch da ist – obwohl man noch atmet, denkt, träumt, spricht. Die, die von meinem Blut sind, erinnerten sich am längsten. Aber auch unter ihnen schwindet die Erinnerung jetzt. Sie betrachten meine Kleider, als wüssten sie nicht mehr, wem sie gehören. Sie wundern sich, dass Türen, die ich geöffnet habe, nicht mehr geschlossen sind. Sie sehen mich nicht mehr. Als würden ihre Blicke abprallen, als wollte nicht einmal mehr das Licht von mir wissen. Mein ältester Sohn hat mich ganz vergessen. Mein Jüngster erinnert sich nur, wenn er träumt, und dann weint er, als wäre ich tot. Sie hören meine Stimme nicht. Ich habe versucht, ihnen Briefe zu schreiben, aber sie können die Schrift auf dem Papier nicht sehen.
    Ich bin Viridian. Ich bin noch da. Aber nur der Schwarze sieht mich noch, und das ist nicht genug. So kann man weder leben noch sterben. Bald werde ich nicht einmal mehr selbst wissen, wer ich bin.

    Du hast deine Rache bekommen, Bravita.

21  DAS RAD

    Am Schluss konnte ich die Buchstaben fast nicht mehr sehen, aber nicht etwa, weil sie verschwunden waren.
    »Weinst du?«, fragte Nichts. »Das darfst du nicht. Sonst wird sie böse. Ich darf nicht weinen, aber ich kann es nicht lassen. Ich versuche und versuche es, aber ich kann es nicht lassen. Es wird schlimmer, wenn ich niese und wenn mir das leidtut. Aber ich weine immer ein bisschen.«
    »Ich weine nicht«, sagte ich. »Ich habe nur … Tränen in den Augen.«
    »Warum denn?«
    »Weil … weil es ganz schrecklich sein muss, wenn die, die man liebt, einen nicht länger wahrnehmen. Wenn sie vergessen, dass man überhaupt existiert.«
    »Ja«, sagte sie nur.
    Tante Isa starrte die Seiten des Buchs an.
    »Ich kann es immer noch nicht sehen«, sagte sie. »Ich konnte hören, was du sagst, aber …« Sie stand ruckartig auf. »Hau ab«, sagte sie und presste die Fingerspitzen an die Stirn. »Ich habe das Recht , mich zu erinnern!«
    Dann nahm sie eine Handvoll Erde aus dem Topf einer toten Zimmerpflanze und häufte sie auf die staubige Kupferplatte, die den Boden vor Funkenflug aus dem Kamin schützen sollte.
    »Was machst du da?«, fragte Oscar neugierig.
    »Dagegen ankämpfen«, sagte sie verbissen. »Ich habe nicht die Absicht, irgendeinen vierhundert Jahre alten Fluch darüber bestimmen zu lassen, woran ich mich erinnere. Er soll aus meinem Kopf, und zwar sofort. Feuer …« Sie sah sich um. Falls jemals Kerzen in den alten Leuchtern steckten, hatten die Mäuse sie schon lange aufgefressen. Also angelte sie mit dem Schürhaken eine glühende Kohle aus dem Kamin. »Das muss reichen«, murmelte sie und schubste die Kohle neben den Erdhaufen. Luft …« Sie schaute zu Nichts. »Bekomme ich eine Feder von dir?«, fragte sie.
    Nichts sah überrascht aus.
    »Du willst etwas von mir haben?« Bei dem Gedanken schien sie überrumpelt und stolz zugleich zu sein. Sie hob sofort einen ungeschickten Fingerfuß hoch und zupfte sich eine Brustfeder aus. »Bitte sehr! Ist eine genug? Du darfst gerne noch eine haben. Oder mehr. Ich meine …« Sie nieste und hinterließ ein Häufchen auf dem Teppichboden. »Also alles, was nützlich sein kann. Ich will so gerne nützlich sein!«
    »Danke«, sagte Tante Isa in einem ungewöhnlich sanften Tonfall. »Eine ist genug. Du warst mir eine große Hilfe.«
    Nichts richtete sich auf und nieste zufrieden.
    Tante Isa spuckte auf ihren Zeigefinger und tauchte ihn in die Kaminasche. Dann zeichnete sie sorgfältig erst ein Kreuz mit exakt gleich langen Armen auf und zog dann einen großen Kreis um das Kreuz und einen winzig kleinen Kreis in seiner Mitte. Ein Rad. Ein Rad mit vier Speichen, aufgeteilt in vier

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