Wildhexe 2 - Die Botschaft des Falken
Viertel. Genau wie das Rad, das in das Leder des Buches geprägt war. Erde, Kohle und Feder lagen jeweils in einem der Kreisviertel. Sie spuckte wieder, sodass das letzte Viertel ein wenig Wasser enthielt.
»Die Nabe …«, murmelte sie. »Wenn es wirken soll, dann …« Sie schaute zu mir hoch. Völlig fasziniert hatte ich ihr zugesehen, denn diese Art von Magie war irgendwie so gar nicht typisch für Isa. Ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass meine Tante eine Hexe war, aber doch nicht so eine, die geheimnisvolle Muster auf den Boden zeichnete und komplizierte Rituale durchführte. Ihre Hexenkunst war natürlicher – ein bisschen mehr sehen als andere, der Natur mit Wildgesang und Kräutern auf die Sprünge helfen, auf den wilden Wegen kommen und gehen, so wie die Tiere, die auftauchen und verschwinden, ohne dass man gemerkt hätte, wie. Mehr Sinne und Instinkt als Formeln und Rituale.
»Clara«, sagte sie. »Ich muss dich um einen Tropfen Blut bitten.«
»Was hast du denn vor?«, fragte ich.
»Ich versuche, Vi… Viri… die arme tote Frau vor dem Vergessen zu retten.«
»Viridian.«
»Ja. Sie.«
»Kannst du nicht mal ihren Namen sagen?«
»Noch nicht«, sagte Tante Isa verbissen. »Es erfordert schon meine volle Konzentration, mich daran zu erinnern, was ich hier tue.«
»Und mein Blut würde helfen?«
»Ja. Es bildet die Nabe des Rads – seinen Mittelpunkt. Die Nabe verbindet das Rad und macht es komplett. Verstehst du das?«
»So einigermaßen.« Nicht ganz. Also, ich konnte schon sehen, dass der kleine Kreis ganz innen im Rad der Mittelpunkt war, aber dass ausgerechnet dieser Punkt so einen Unterschied machen sollte, war schwer vorstellbar.
»Der Drehpunkt«, sagte Oscar plötzlich. »Siehst du das nicht, Clara? Wäre das hier wirklich ein Rad und nicht nur eine Zeichnung, dann wäre die Nabe der Punkt, an dem die Achse das Rad trifft, der Punkt, um den sich das Rad dann dreht. Wenn ein Rad keine Nabe hat, ist es kein Rad, sondern nur … äh … eine runde Scheibe.«
»Okay …«, sagte ich langsam. »Das ergibt irgendwie Sinn.«
»Yes«, sagte Oscar. »Das wird cool. Komm schon, Clara, piek dir in den Finger oder so.«
Natürlich war damals Oscar auf die Idee gekommen, Blutsbrüderschaft zu schließen. Jetzt sah er mich mit genau derselben Begeisterung an. Eigentlich war es ein bisschen schade, dass nicht Oscar die Wildhexentante hatte. Er hätte es geliebt , all das zu lernen, wovor ich mich fürchtete.
Niemand von uns hatte ein Messer oder eine Nadel. Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ein Sherryglas zu zerschlagen, um eine Kante zu bekommen, die scharf genug war, um meinen Mittelfinger anzuritzen. Der Schnitt brannte und wurde ein bisschen tiefer, als ich beabsichtigt hatte. Mein Finger fing ziemlich kräftig an zu bluten.
»Halt ihn über die Nabe«, sagte Tante Isa. »Und sag … den Namen.«
Erinnere Viridian. Wenn es eine Botschaft gab, die ich inzwischen verinnerlicht hatte, dann diese.
Ich kniete mich neben das Rad und hielt meinen Finger über den Mittelpunkt. Es war nicht nötig, das Blut herauszuquetschen, es quoll von ganz alleine. Glänzende dunkelrote Tropfen rannen über Finger und Nagel und fielen, beinahe langsam, wie ich fand, auf die schwarze Nabe des Ascherades.
Die ersten Tropfen trafen, lautlos. Ich starrte auf das Blut, das nach und nach das Innere des kleinen Kreises ausfüllte, ohne über die Linie zu laufen. Ein vollkommener blutroter Kreis. Ich vergaß, dass ich etwas sagen sollte. Es war ein bisschen wie in dem Moment, in dem Fetzenohr mich am Hals gebissen hatte. Ein Teil von mir schaute hinunter auf das Blut, aber zugleich war ich immer noch im Blut – ich war in mir und zugleich immer mehr außerhalb meines Körpers, mit jedem Tropfen, der fiel.
»Clara! Sag es.«
Tante Isas Stimme klang seltsam fern. Die Tropfen fielen. Ich fiel mit ihnen. Das Rad begann, sich um mich zu drehen. Ich war in der Mitte. Alles andere drehte sich mit. Der Drehpunkt, hatte Oscar gesagt, genau das war ich. Ich stand still, während sich alles andere bewegte, schneller und schneller, bis die Geschwindigkeit alles verwischte und ich nichts mehr sehen konnte. Absolut nichts.
22 »NICHT MENSCH, NICHT TIER«
Als alles aufhörte, sich zu drehen, war ich an einem anderen Ort. Hier war kein Wohnzimmer mehr, kein Kamin und auch keine Tante Isa. Stattdessen war es um mich herum dunkel. Es roch nach Tang und Salzwasser. Nur ein paar wenige Streifen graues
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