Wildnis
Du hast uns doch beschworen, dass wir zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen sollen.“
Michael wich Jans Blick aus. „Ihr drei wünscht, dass wir sie vor die Wahl stellen: Entweder sie macht ganz mit oder gar nicht. Ich verstehe euch, das ist eigentlich fair. Ich wäre gerne großzügiger mit ihr, aber da wir nur zu fünft sind, seid ihr in der Mehrheit und ich werde mich fügen.“
Wie konnte Michael so nachgeben? Und das, obwohl er am selben Morgen noch niedergeschlagen war, weil er Anna liebte oder begehrte oder was auch immer, und sie nichts von ihm wollte. Er war ein Meister darin, Anderen seinen Willen einzugeben, warum hielt er sich zurück? War er etwa einverstanden?
„Das könnt ihr nicht machen!“ Endlich fand Jan seine Stimme wieder. „Natürlich benimmt sie sich komisch. Ich fühle mich auch manchmal zurückgestoßen von ihrer abweisenden Art. Trotzdem ... Michael hat recht mit dem, was er zuerst gesagt hat. Wir müssen mit ihr sprechen.“
„Ich spreche nicht mehr mit ihr.“ Greg reckte triumphierend das Kinn.
Laura richtete sich auf: „Ich auch nicht.“
Jenny schüttelte den Kopf.
Alle blickten zu Michael. „Erst wieder, wenn sie sie sich der Gruppe anvertraut hat.“
„Sie soll sich fügen“, flüsterte Jenny.
Jan stand auf und machte einige Schritte zur Tür. „Ich werde weiter mit ihr sprechen, selbst wenn ihr mich deswegen mit ausschließt.“ Er stürmte aus dem Haus, berauscht von dem Mut, mit dem er sich gegen die Gruppe gestellt hatte. Er brauchte die Anderen nicht! Er ließ sich nicht verbiegen! Und Anna würde es ihm danken.
Zugegeben, sie hatte gesagt, dass die Gruppe sie anwiderte. Das war ein Affront, aber kein Grund, eine solche Wut auf sie zu entwickeln. Woher kam das? Vielleicht entlud sich an ihr die Anspannung der verdrängten Angst: erst die Refford-Geschichte, dann Wilkens Stippvisite ... Alle waren nervös und keiner zeigte es.
Er fand sie nicht, und nach und nach regten sich Zweifel. War es nicht leichtsinnig gewesen, sich selbst so auszugrenzen? Hatte er Michael zu Unrecht verdächtigt? Vielleicht war sein Freund weitsichtiger und handelte geschickter in Annas Interesse als er, der sinnlos durch den Wald rannte. Vielleicht war es richtig, jetzt der Wut nachzugeben, um mit den Anderen später in Ruhe reden zu können.
Und wieso konnte sich Anna nicht ein klein wenig zurücknehmen? Er musste ihr klarmachen, dass er ihre Schwierigkeiten verstand, aber nicht ihr Verhalten.
Zornig lief er umher, schreckte Waldhühner und einen Fuchs auf und kehrte ins Haus zurück, ohne Anna gefunden zu haben. Er musste sich mit Michael besprechen. Gemeinsam würden sie die Gruppe wieder zusammenbringen und in friedlichen Bahnen halten.
Der gezackte Schatten der Bäume kletterte die Hauswand empor, das Dach leuchtete noch warm in den späten Abendstrahlen. Nasse Bettwäsche hing an einer Strippe, die zwischen zwei Säulen auf der Veranda gespannt war. Jan tauchte darunter hindurch und trat ein.
Die vier beendeten gerade ihr Abendessen. Jan kam sich seltsam vor, wie ein Bittsteller, bis Michael ihn freundlich dazulud. Sie schienen den Streit mit Anna abgehakt zu haben und sprachen von wilden Tieren, vom starren Blick der Schlangen und schließlich vom Hypnotiseur, den sie für ihren Abi-Scherz hatten einladen wollen, was aufgrund irgendwelcher rechtlicher Bedenken nicht zugelassen worden war.
„Ich würde mich gerne einmal hypnotisieren lassen“, sagte Jenny. „Wie sich das wohl anfühlt?“
„Schau mir in die Augen, Kleine“, sagte Michael mit dumpfer Stimme.
„Du kannst hypnotisieren?“
„Ich bin Mr. Lemming, niemand kann mir widerstehen.“ Michael fixierte sie. „Setz dich“, er unterbrach sich und nahm wieder die Stimme des Hypnotiseurs an. „Setz dich in diesen Sessel.“
Jenny tat wie geheißen, Michael stellte sich vor sie. Die Anderen folgten ihnen und ließen sich nieder.
„Schließe die Augen und entspanne dich. Spüre deine Müdigkeit. Spüre die Müdigkeit überall in deinem Körper. Bleibe bei meiner Stimme, während deine Beine schwer werden ... deine Arme schwer werden ... dein Kopf schwer wird.“ Michael ließ einen verschwörerisch-amüsierten Blick durch die Runde huschen. „Öffne langsam deine Augen und schaue auf meinen Finger. Folge meinem Finger, von links, nach rechts, nach links, nach rechts.“ Nun ganz in seiner Rolle leierte er diese monotone Anweisung während einer Minute.
„Hebe den rechten Arm.“
Jenny hob den rechten
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