Wildnis
fuhr auf. Alles kreiste um ihn, seine Kehle brannte. Jenny lag in ihrem Bett, Michael fehlte. Wie viel Uhr mochte es sein? Er ließ seinen verkaterten Kopf wieder sinken. Zwischen sieben und acht sollte das Flugzeug kommen, hatte Wilken gesagt, spätestens neun, danach sollten sie die Polizei alarmieren. Wahrscheinlich hatten die Anderen recht und er war ein Nymphochonder oder sonstiger Spinner – aber was, wenn nicht? Es waren doch seltsame Zufälle, dass ein Betrüger sie in dieses Tal lockte, in dem zwei Jahre zuvor ein Mörder zugeschlagen hatte, und just der Eigentümer ihres Hauses auftauchte, der damals in den Fall verwickelt gewesen war. Zum ersten Mal seit der Tragödie, dem verwahrlosten Zustand des Hauses nach zu urteilen.
Sollte er runter zum See gehen? Es schien noch zu früh zu sein. Und der Pilot würde nicht gleich durchstarten, wenn sie nicht mit geschulterten Rucksäcken am Ufer stünden. Jan beschloss, im Bett, aber wach zu bleiben. Er würde die Maschine hören.
Nach einigen unruhigen Minuten sah er ein, dass nichts half, er musste sein Gewissen beruhigen und zum See. Dort könnte er genauso gut vor sich hindämmern wie hier. Widerwillig richtete er sich auf und zog sich an. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, es war längst noch nicht sieben.
Die Tür zu Annas Zimmer stand offen. Auch im Salon war sie nicht. Jan trank reichlich Wasser in der Küche und machte sich daran, die leeren Flaschen und Gläser im Salon aufzuräumen. Die sichtbaren Erinnerungen an die letzte Nacht störten ihn.
Laura kam im Schlafanzug die Treppe herunter, die Haare zerstrubbelt, nickte ihm zu, bediente sich in der Küche und verschwand wieder nach oben.
Jan lief zum See. Die Luft war noch kühl. Umso wärmer fielen die Morgenstrahlen auf sein Gesicht, als er aus dem Wald herauskam und über die Wiese zum Ufer hinabging. Dort lungerte bereits jemand. Es war Michael, der sich auf die Ellenbogen gestützt sonnte.
„Hallo“, sagte Jan, als er sich bis auf wenige Meter genähert hatte.
Michael riss die Augen auf. Seine geschwollene Wange hatte sich verfärbt, sonst war er blass. „Auch hier.“
„Ja. Wilken ist ein schräger Vogel, aber man kann nie wissen.“
„Natürlich ist das Quatsch. Das Tal ist harmlos, sonst hätte ich es nicht ausgewählt. Aber da ich die Verantwortung habe ...“ Michael schloss die Augen wieder und ließ den Kopf sinken. „So beschissen habe ich mich selten gefühlt. Sich besaufen und dann von Greg Kloppe bekommen ...“
Jan hockte sich zu ihm auf den Kies. „Das war wirklich ein dummer Einfall! Wenn Greg noch mal damit anfängt, musst du vernünftiger sein!“
„Das war nur wegen Anna. Ich sollte nicht so schnell frustriert sein ... Mir bleibt ja noch viel Zeit.“
„Deine Chancen bei ihr vergrößerst du jedenfalls nicht, wenn du dich prügelst, um mit Laura zu pennen.“
„Spar dir den Scheiß! Ich hatte einfach einen Blackout. Ich habe so verdammt viel geopfert, um sie zu bekommen, und sie lässt mich spüren, dass sie keinen Bock auf mich hat.“
„Du übertreibst mal wieder. Du brauchst Anna nicht rumzukriegen, um hier eine tolle Zeit zu verbringen.“
Gänse flogen in einer pfeilförmigen Formation über das Wasser, die Köpfe weit nach vorne gestreckt. Michael blickte ihnen nach. „Ihretwegen habe ich mich von Caro getrennt.“
„Was?“ Michael hatte seine Freundin vor zwei Monaten verlassen und dafür so allgemeine Gründe vorgeschoben, dass Jan sich nicht ins Vertrauen gezogen gefühlt hatte.
„Weißt du noch, als Anna in unsere Stufe gekommen ist, da haben wir beide Liebesgedichte geschrieben, oder wie immer du unsere Schwärmerei für sie nennen magst. In den letzten Monaten ... Ich habe dir davon nichts erzählt ... Ich war wie besessen von ihr. Früher konnte ich hoffen, dass ich eines Tages mit ihr zusammenkommen würde, aber dann, als das Abi nahte ... und sie auch noch nach Paris wollte ...“
Michael lenkte das Gespräch auf ihre Schulzeit und Freundschaft, erinnerte sich an Vieles, war aber nicht recht bei der Sache. Ihre Unterhaltung erlahmte und sie dösten still in der Morgensonne, bis sie das Warten aufgaben und zum Haus zurückkehrten. Dieser angebliche Mr. Wilken hatte ihnen ein Schauermärchen erzählt.
Eine weitere Stunde musste Jan auf der Veranda herumhängen, dann wanderten sie, wiederum zu fünft, bergauf in nordwestlicher Richtung, bis sie in ein Seitental gelangten, das nur aufgelockert von Buschwerk und niedrigen Bäumen
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