Wildnis
ließ Laura und Greg alles durchgehen. Und Anna? Was wollte sie überhaupt von ihm, fragte sich Jan verdrossen. Ein wenig Ablenkung in ihrer Einsamkeit freute sie – ihn ständig um sich zu haben, würde sie ermüden. Und konnte er sich darauf verlassen, dass sie sich nicht unversehens Michael in die Arme werfen würde?
Ein Schwarm winziger Fliegen waberte über seinem Gesicht. Er schlug einige Male hinein, ohne ihn vertreiben zu können. Der Stamm wurde auf Dauer ohnehin unbequem, und so balancierte er zurück, kühlte sich im See ab und machte sich auf den Heimweg.
Die Anderen standen auf den Stufen zur Veranda. Am Boden lagen das Gewehr und zwei große, graue Hasen.
„Ihr hättet sehen müssen, was Greg für ein sicherer Schütze ist“, schwärmte Michael. „Beide Male hat er getroffen, dabei waren die Hasen zwanzig oder dreißig Meter entfernt.“
„So oft wie ich meinen Vater begleitet habe ...“ Greg zuckte mit den Schultern. „Aber ihr hättet mich in Tunesien bei der Vogeljagd sehen sollen. Das sind fiese Ziele!“
„Hallo“, sagte Jan, der bislang keine Beachtung gefunden hatte.
Michael drehte sich zu ihm um. „Hi! Wie schade, dass du nicht dabei warst! Das nächste Mal musst du unbedingt mit! All die Jahre haben wir auf der Schulbank gesessen und dabei ist der Mensch zum Jagen gemacht. Sogar die Mädchen haben Lust.“
„Ihr könnt alle gehen, ich bleibe und bewache das Haus“, erwiderte Jan.
„Er hat etwas gegen uns.“ Laura begann, die Auseinandersetzung zwischen Anna und Jenny nachzuerzählen. Jan ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Er hatte das Gefühl, dass er sich einmischen sollte, brachte es aber nicht über sich. Laura allein war anstrengend genug gewesen, jetzt auch noch Greg aushalten zu müssen, überstieg seine Kräfte. Er floh hinauf ins Jungenzimmer, legte sich aufs Bett und blickte aus dem Fenster: Zwar grummelte es in der Ferne, doch die Wolkentürme blieben weiß. Wie lange würde das Unwetter auf sich warten lassen?
Jenny rief ihn zum Abendessen.. Der Tisch war festlich gedeckt. Auf den Tellern standen gefaltete Servietten, darum herum drapiert lagen je zwei Messer und Gabeln und ein kleiner Löffel. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in den Weingläsern.
Sie setzten sich und Michael ergriff das Wort. „Seit fünf Tagen sind wir in diesem Tal, und jeder Tag war außergewöhnlich! Wir haben uns kennengelernt: wozu wir in der Lage sind, wie viel weiter unsere Grenzen liegen, als wir uns das in unserer alltäglichen Ängstlichkeit hätten vorstellen können.“ Er ließ seinen Blick zustimmend durch die Runde wandern. Die Prellung von Gregs Schlag war weitgehend verblasst und er sah aus wie der Held eines Abenteuerfilms. „Ich bin stolz auf uns – und vor allem auf Jenny und Jan, die mehr noch als wir Anderen ein Wagnis eingegangen sind, als sie sich für diese Reise nach Alaska entschlossen, und die nun so mutig ihren Platz in der Gruppe gefunden haben.“
Er erhob sein Glas und alle stießen an. Sogar Greg und Laura lächelten Jan zu. Jenny strahlte.
„Auf unsere ersten Tage in Alaska, auf die großartige Zeit vor uns!“, rief Michael. Es war, als wären sie ein Dutzend, so laut brach die Feier los. Erst als es dunkelte, hatten sie sich am Hasen sattgegessen. Die vier Flaschen Rotwein, die Michael für diesen Anlass zurückgehalten hatte, reihten sich leer auf dem Fensterbrett.
Sie zogen zum Kamin um. Michael setzte sich mit dem Rücken zum Feuer auf ein Kissen und holte ein Blatt aus seiner Hosentasche. Er faltete es auf, las es für sich mit dem gleichen Ausdruck der Kennerschaft, mit der er zuvor den Sauvignon goutiert hatte, und kündigte ein eigenes Gedicht an.
Jans Herz schlug schneller. Seit Monaten hatte Michael nichts mehr geschrieben. Doch die Freude verflog mit dem Titel. Das war sein Gedicht! Er hatte es noch zu Hause, voller Erwartung und Ungeduld verfasst. Es hatte Michael so gut gefallen, dass er sich eine Kopie gewünscht hatte. Und die hielt er nun in den Händen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sie abzuschreiben.
Jennys Worte rissen ihn aus seinen erzürnten Gedanken. „Das ist großartig! Du bist ein Poet.“
„Das ist wirklich dein Gedicht?“, fragte Laura. „Das hast du nicht irgendwo geklaut?“
„Geklaut schon“, gab Michael amüsiert zu. „Bloß nicht irgendwo.“
„Du alter Schummler!“, rief Laura. „Du hast mich fast drangekriegt.“
Michael machte eine Verneigung, so gut er das
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