Wildnis
im Sitzen vermochte. „Meine Damen und Herren, darf ich den Dichter vorstellen ...“ Er wies auf Jan.
Es war unglaublich! In der Schule hätten sie ihn dafür gehänselt. Schon vor Jahren hatte er aufgehört, seine Texte in den Deutschunterricht mitzubringen. Und nun konnten seine ehemaligen Mitschüler ihrer Bewunderung gar nicht Ausdruck genug verleihen. Selbst Greg meinte, das Gedicht sei nicht übel, auch wenn er zum Glück nicht viel davon verstünde. Laura versprach ihm eine goldene Zukunft und verabredete sich mit ihm für ein exklusives TV-Interview mit ihr als Moderatorin. Und Jenny erbat mit schmachtenden Blicken, dass er ihr sein nächstes Werk widmen möge.
Euphorisch sank Jan nach diesem Abend in sein Bett. Der Gedanke an Jennys Verrat mit Greg und Annas Streit mit Jenny versetzten ihm einen Stich, doch Lob und Gelächter klangen lauter in seinem schläfrigen Geist nach.
Irgendetwas weckte ihn. Er hatte das Gefühl, sich gerade erst hingelegt zu haben. Es war noch dunkel. Michael schlief, Greg fehlte. War der wieder bei den Mädchen? Aber Jenny hatte den ganzen Tag über durch Greg hindurchgeschaut ...
Wieder Geräusche! Sie schienen von unten zu kommen.
Jan stand auf, schlich durch den Flur, die knarrende Treppe hinunter, in den Salon. Die Geräusche waren nun deutlicher, mal dumpf, mal metallisch. Ein Kampf?
Auf dem Sofa schimmerte das Jagdgewehr im Mondlicht. Greg musste es dort abgelegt haben. Jan packte es und legte den Finger auf den kalten Abzug. Es war schwerer als die Flinten, die er vom Jahrmarkt kannte – und es konnte töten.
Auf Zehenspitzen eilte er zur Küche.
Sie war leer.
Der Lärm kam aus der geschlossenen Vorratskammer. Er riss die Tür auf und sprang zurück.
Die Kammer war finster. Etwas bewegte sich auf dem Boden.
„Nicht schießen!“, rief jemand. „Weg mit dem Gewehr!“
Jan senkte die Mündung.
„Jan?“ Gregs Stimme war rau, zugleich erklang ein leises Stöhnen.
„Ja. Was machst du da? Bist du allein?“
„Lass uns in Ruhe!“ Wieder das Stöhnen, wie ein Rufen.
„Anna?“
„Verpiss dich, Jan.“
„Anna, sag was!“
Jan tastete nach dem Lichtschalter. Erst sahen seine geblendeten Augen nichts – und dann alles zugleich: die leergefegten Borde, das umgestürzte Regal, Anna mit dem Gesicht nach unten in dem Durcheinander aus Packungen, Dosen, Obst und Gemüse, Greg auf ihr liegend, die Arme um sie geschlungen, Hemd und Hose verschmiert, gelb und braun, am Rücken rot.
Anna wehrte sich.
„Lass sie los!“, befahl Jan.
„Wie du willst. Aber glaub ihr kein Wort. Das war eine Falle. Ich komme jetzt schnell zu dir, pass auf, dass du nicht versehentlich einen Schuss auslöst.“
Jan trat zur Seite, ließ Greg fliehen und stürzte zu Anna. „Bist du verletzt?“
Sie drehte sich auf die Seite. „Ich weiß nicht. Der Dreckskerl!“
Jan half ihr auf und brachte sie zum Sofa. Sie ließ sich in die Kissen sinken, er kniete sich neben sie. „Was ist passiert?“
„Sofort.“ Sie griff nach seiner Hand und nahm einige tiefe Atemzüge. „Der Wichser hat mich überrascht, als ich mir Essen holen wollte. Ich war in der Speisekammer, den Rücken zur Tür, als ich etwas hörte. Ich wollte mich umdrehen, da hat er sich schon auf mich geworfen. Ich habe vergeblich versucht, mich zu befreien. Er hat mich festgehalten und mir ein Tuch gegen den Mund gepresst.“
Sie drückte seine Hand fester. „Wahrscheinlich hätte ich euch davor mit einem Schrei alarmieren können. Aber ich habe mich erst gewehrt, das war ein Reflex, und nach ein paar Sekunden war es zu spät.“
„Das Schwein wollte dich vergewaltigen!“
„Ich weiß nicht. Nachdem er mich gebändigt hatte, schien er selbst nicht genau zu wissen, was er tun sollte.“
„Ich könnte ihn erschießen!“
„Zum Glück bist du hereingeplatzt.“
„Wir müssen hoch und die Anderen wecken.“ Jan erhob sich. „Wir werden funken, damit die Polizei kommt und ihn abholt. Tätlichkeit und sexuelle Nötigung oder so etwas, dafür wird er sich eine Menge Ärger einhandeln. Du bist dir sicher, dass du nichts Ernsthaftes abbekommen hast?“
Anna bewegte Arme und Beine. „Nur Schrammen und wahrscheinlich ein paar blaue Flecken. Kaum, dass Michael wieder zivilisiert aussieht ...“ Sie versuchte ein Lächeln.
Jan ging zur Treppe und brüllte: „Michael, Laura, Jenny! Wacht auf! Kommt runter!“ Er meinte, Gregs aufgeregte Stimme im oberen Stockwerk zu hören.
Seine Schritte führten ihn in die Küche.
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